Aufstieg durch Leistung, Integration durch Leistung
Noch nie haben so viele Spieler mit Migrationshintergrund in der Nationalmannschaft gekickt. Der Sport lebt derzeit die große Idee der "offenen Gesellschaft" vor. Die verspricht Integration durch Leistung.
Am Wochenende ist es wieder soweit: Deutschland spielt, diesmal gegen Argentinien. Aufs Neue werde ich mit der deutschen Mannschaft mitfiebern, daheim oder mit Freunden beim Public Viewing. Meine Gefühle für die Nationalmannschaft sind jedoch nicht unbefangen. Ich gehöre nicht zu denen, die die Nationalhymne singen, den deutschen Schlachtruf brüllen oder die schwarz-rot-goldene Fahne schwenken.
Ich kann das nicht, nach Auschwitz. Dabei bin ich kein Einzelfall. Viele Deutsche, vor allem unter den Intellektuellen, sind beim Fußball eher Leistungspatrioten. Leistungspatriotismus bedeutet, sich aufgrund der Anstrengungen der deutschen Spieler mit ihnen zu identifizieren und nicht allein wegen der gemeinsamen Nationalität.
Bei dieser WM aber beobachte ich Veränderungen an mir. Ich sage des Öfteren "wir", wenn ich vom Nationalteam spreche, ich male meinem Sohn vor den Spielen die Wangen in den deutschen Farben an, und ich freue mich, wenn ich nach einem gewonnenen Spiel jubelnde Menschen am Straßenrand sehe. Meine Gefühle zur Mannschaft und zur Nation sind in Bewegung.
Der Grund dafür steht auf dem Rasen und hört auf die Namen Boateng, Klose, Özil, Khedira, Trochowski und Cacau, um nur einige zu nennen. Es sind Spieler, die im Ausland geboren wurden oder die von Eltern oder zumindest einem Elternteil ohne deutsche Staatsangehörigkeit abstammen, die also einen Migrationshintergrund haben.
Das gab es zwar auch früher schon, in den 50er-Jahren, als polnischstämmige Spieler aus dem Ruhrgebiet im DFB-Dress kickten, in den 80ern mit Jimmy Hartwig, Kind eines afroamerikanischen GIs oder mit dem in Ghana geborenen Gerald Asamoah im letzten Jahrzehnt. Nie aber waren es so viele wie bei dieser Weltmeisterschaft. Fast die Hälfte der Spieler im deutschen Kader hat einen Migrationshintergrund.
Ich bin stolz auf den deutschen Fußball, der in der Wirklichkeit unseres Landes angekommen ist. Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, zirka 15 Millionen Menschen haben einen Migrationshintergrund. In dieser Gesellschaft lebt der Fußball derzeit eine große Idee vor, die Idee der "offenen Gesellschaft". Im Prinzip ermöglicht die offene Gesellschaft Menschen (nicht nur) mit Migrationshintergrund, durch Leistung aufzusteigen, soziale Anerkennung zu erlangen und sogar berühmt zu werden.
Die offene Gesellschaft verspricht: Es ist egal wo du herkommst, welche Hautfarbe, Religion oder welches Geschlecht du hast – wenn du dich anstrengst, bist du ein Teil der Gemeinschaft, dann "bist du Deutschland".
Die offene Gesellschaft ist in zwei Richtungen offen, in Richtung der Aufgenommenen, aber auch in Richtung der Angestammten, weil sich das wandelt, was bisher als deutsch galt. Deutschland wird pluralistischer, aber nicht beliebig, kein trennendes Nebeneinander, sondern ein sich wandelndes Miteinander unter dem Dach der deutschen Sprache und Kultur, den so oft belächelten deutschen Tugenden und dem Leistungswillen nicht nur auf dem Fußballplatz.
Jogi Löws Männer sind Symbole dieser offenen Gesellschaft, Vorbilder, denen Alteingesessene und Zugewanderte gleichermaßen zujubeln, ohne wechselseitige Ressentiments, allein in Würdigung des Einsatzes für das gemeinsame Land.
Sicher, in der Breite der deutschen Gesellschaft sieht die Wirklichkeit der Integration noch anders aus. Die Mehrzahl der Menschen mit Migrationshintergrund lebt in schlechteren Lebensverhältnissen als die angestammte Mehrheit, manche kapseln sich ab, und Fremdenfeindlichkeit ist immer noch ein Alltagsphänomen.
Und dennoch. Indem die Nationalmannschaft die Idee der offenen Gesellschaft vorlebt, bietet sie eine Leitidee an, auf die wir uns kollektiv einigen könnten: Aufstieg durch Leistung, Integration durch Leistung. Das hat das Nationalteam schon einmal geschafft, 1954, beim Wunder von Bern. Damals hieß die Idee "Anerkennung durch Leistung", und diese Idee hat den Deutschen Ihr Gemeinschaftsgefühl zurückgegeben.
Auf ein Deutschland, das die Idee der offenen Gesellschaft mit aller Kraft verwirklichen will, nicht nur im Fußball, sondern in allen Lebensbereichen; auf ein solches Deutschland könnte ich stolz sein. Auch deshalb wünsche ich mir, dass wir Weltmeister werden, mit Toren von Özil, Müller und Tasci im Finale.
Holger Lengfeld, Dr. phil., Jahrgang 1970, ist Professor für Soziologie und Inhaber der "Ernsting’s family-Stiftungsprofessur für Soziologische Gegenwartsdiagnosen" an der FernUniversität in Hagen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Wien. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Wandel und den Ursachen von sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa.
Ich kann das nicht, nach Auschwitz. Dabei bin ich kein Einzelfall. Viele Deutsche, vor allem unter den Intellektuellen, sind beim Fußball eher Leistungspatrioten. Leistungspatriotismus bedeutet, sich aufgrund der Anstrengungen der deutschen Spieler mit ihnen zu identifizieren und nicht allein wegen der gemeinsamen Nationalität.
Bei dieser WM aber beobachte ich Veränderungen an mir. Ich sage des Öfteren "wir", wenn ich vom Nationalteam spreche, ich male meinem Sohn vor den Spielen die Wangen in den deutschen Farben an, und ich freue mich, wenn ich nach einem gewonnenen Spiel jubelnde Menschen am Straßenrand sehe. Meine Gefühle zur Mannschaft und zur Nation sind in Bewegung.
Der Grund dafür steht auf dem Rasen und hört auf die Namen Boateng, Klose, Özil, Khedira, Trochowski und Cacau, um nur einige zu nennen. Es sind Spieler, die im Ausland geboren wurden oder die von Eltern oder zumindest einem Elternteil ohne deutsche Staatsangehörigkeit abstammen, die also einen Migrationshintergrund haben.
Das gab es zwar auch früher schon, in den 50er-Jahren, als polnischstämmige Spieler aus dem Ruhrgebiet im DFB-Dress kickten, in den 80ern mit Jimmy Hartwig, Kind eines afroamerikanischen GIs oder mit dem in Ghana geborenen Gerald Asamoah im letzten Jahrzehnt. Nie aber waren es so viele wie bei dieser Weltmeisterschaft. Fast die Hälfte der Spieler im deutschen Kader hat einen Migrationshintergrund.
Ich bin stolz auf den deutschen Fußball, der in der Wirklichkeit unseres Landes angekommen ist. Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft, zirka 15 Millionen Menschen haben einen Migrationshintergrund. In dieser Gesellschaft lebt der Fußball derzeit eine große Idee vor, die Idee der "offenen Gesellschaft". Im Prinzip ermöglicht die offene Gesellschaft Menschen (nicht nur) mit Migrationshintergrund, durch Leistung aufzusteigen, soziale Anerkennung zu erlangen und sogar berühmt zu werden.
Die offene Gesellschaft verspricht: Es ist egal wo du herkommst, welche Hautfarbe, Religion oder welches Geschlecht du hast – wenn du dich anstrengst, bist du ein Teil der Gemeinschaft, dann "bist du Deutschland".
Die offene Gesellschaft ist in zwei Richtungen offen, in Richtung der Aufgenommenen, aber auch in Richtung der Angestammten, weil sich das wandelt, was bisher als deutsch galt. Deutschland wird pluralistischer, aber nicht beliebig, kein trennendes Nebeneinander, sondern ein sich wandelndes Miteinander unter dem Dach der deutschen Sprache und Kultur, den so oft belächelten deutschen Tugenden und dem Leistungswillen nicht nur auf dem Fußballplatz.
Jogi Löws Männer sind Symbole dieser offenen Gesellschaft, Vorbilder, denen Alteingesessene und Zugewanderte gleichermaßen zujubeln, ohne wechselseitige Ressentiments, allein in Würdigung des Einsatzes für das gemeinsame Land.
Sicher, in der Breite der deutschen Gesellschaft sieht die Wirklichkeit der Integration noch anders aus. Die Mehrzahl der Menschen mit Migrationshintergrund lebt in schlechteren Lebensverhältnissen als die angestammte Mehrheit, manche kapseln sich ab, und Fremdenfeindlichkeit ist immer noch ein Alltagsphänomen.
Und dennoch. Indem die Nationalmannschaft die Idee der offenen Gesellschaft vorlebt, bietet sie eine Leitidee an, auf die wir uns kollektiv einigen könnten: Aufstieg durch Leistung, Integration durch Leistung. Das hat das Nationalteam schon einmal geschafft, 1954, beim Wunder von Bern. Damals hieß die Idee "Anerkennung durch Leistung", und diese Idee hat den Deutschen Ihr Gemeinschaftsgefühl zurückgegeben.
Auf ein Deutschland, das die Idee der offenen Gesellschaft mit aller Kraft verwirklichen will, nicht nur im Fußball, sondern in allen Lebensbereichen; auf ein solches Deutschland könnte ich stolz sein. Auch deshalb wünsche ich mir, dass wir Weltmeister werden, mit Toren von Özil, Müller und Tasci im Finale.
Holger Lengfeld, Dr. phil., Jahrgang 1970, ist Professor für Soziologie und Inhaber der "Ernsting’s family-Stiftungsprofessur für Soziologische Gegenwartsdiagnosen" an der FernUniversität in Hagen. Zuvor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Freien Universität Berlin und der Universität Wien. Er beschäftigt sich vor allem mit dem Wandel und den Ursachen von sozialer Ungleichheit in Deutschland und Europa.