Aufstieg und Fall eines Mafia-Bosses
Kriminell, mächtig, undurchschaubar und faszinierend - unser Bild von der amerikanischen Mafia wurde vor allem durch Filme wie "Der Pate" geprägt. Wie es wirklich hinter den Kulissen zugeht, berichtet Gay Talese in seiner Reportage "Ehre deinen Vater". Talese gelang es, in den innersten Zirkel einer Mafia-Familien vorzudringen.
Man könnte Bill Bonanno einen harten Hund nennen. Ein Mafioso, ältester Sohn von Joseph Bonanno, dem Oberhaupt einer der einflussreichsten Familien der amerikanischen Mafia in den 60er-Jahren, würdiger Stellvertreter des untergetauchten Vaters. Gleichzeitig tritt er als umtriebiger Geschäftsmann in Aktion. Wer ist Bill Bonanno (1932-2008) wirklich?
Der amerikanische Journalist Gay Talese, Jahrgang 1932, selbst italienischer Abstammung und einer der großen Repräsentanten des new journalism, begegnete dem Mafioso Mitte der 60er Jahre während einer Verhandlungspause auf dem Flur des Bundesgerichts in Manhattan und hatte plötzlich die Idee, diesem Mann eine Reportage zu widmen. Talese drang in den inneren Kreis der Familie vor. Im Verlauf von sechs Jahren kamen Talese und Bill Bonanno immer wieder zusammen; am Ende reiste der Journalist sogar nach Sizilien, um das Dorf der Bonannos Castellammare del Golfo kennenzulernen. "Ehre deinen Vater" heißt sein dickleibiges Buch, in dem er den Clan der Bonannos porträtiert.
Taleses Reportage setzt mit der spektakulären Entführung von Bill Bonannos sagenumwobenen Vater ein. Joseph Bonanno hatte unter den fünf Clans der New Yorker Mafia die längste Amtszeit. Über 30 Jahre führte er die in Brooklyn beheimatete Bonanno-Sippe an. Joe ließe sich sogar als fatale Schlüsselfigur der gesamten Entwicklungsgeschichte der sizilianischen und amerikanischen Mafia begreifen: Bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in seiner Heimat 1957 wurden die Grundsteine für die Beziehungen zwischen beiden Organisationen gelegt. Wie stark die patriarchalen Strukturen Joe Bonannos ältesten Sohn prägten, deutet Talese schon im Titel seines Buches an: Bill, in Arizona aufgewachsen und auf den ersten Blick ein all american boy, fühlt sich den bizarren mafiosen Wertvorstellungen von Ehre und Familie vollständig verpflichtet und bemüht sich, nach dem Verschwinden des charismatischen Vaters der Anführerrolle des Clans gerecht zu werden. In Rückblenden erzählt Gay Talese von der Kindheit und Jugend Bills, seiner Zeit auf dem College, der pompösen Hochzeit im Astor mit Rosalie Profaci, Tochter eines befreundeten Mafiabosses. In eindringlichen Szenen zeichnet er den Niedergang eines Imperiums nach: Bill kann weder aus dem Schatten seines Vaters heraus treten, noch sich den Zugriffen der Justiz entziehen. Das Buch endet mit der Beschreibung eines Gerichtsprozesses, bei dem Bill 1970 schuldig gesprochen und zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt wird.
Die 60er-Jahre waren eine Zeit des Umbruchs: Die Mafia hatte jahrzehntelang ihre Einkünfte über Glücksspiel, Wucher und Schutzgeld bestritten und mit legalen Tätigkeiten verknüpft, doch auf einmal kamen Drogen ins Spiel. In der Kommission war man zerstritten; vor allem die alten Bosse wehrten sich gegen den Handel mit Narkotika, der als unterste Stufe krimineller Machenschaften galt.
Wie in der legalen Wirtschaft kam es zu dramatischen Verteilungskämpfen. Innerhalb der Mafia zeichnete sich ein Zerfallsprozess ab. Außerdem ging der Staat in eine Generaloffensive: Schon 1950 war der erste Ermittlungsausschuss gegen das organisierte Verbrechen eingerichtet worden.
Taleses Reportage erschien bereits 1971, und die Brisanz seiner Darstellung bestand vor allem darin, dass er einem Repräsentanten der Mafia, deren wirtschaftliche Potenz man damals nach und nach bloß legte, so nahe gekommen war. Der Autor wählt einen zurückgenommenen Tonfall, trägt nie dick auf, sondern schildert die Geschehnisse kühl und sachlich. An Brillanz und Spannungsreichtum hat "Ehre deinen Vater" in den letzten 30 Jahren nichts verloren. Allerdings tritt Gay Talese als Beobachter in Aktion und verzichtet auf eine eindeutige Bewertung. Angesichts der dramatischen Entwicklungen der italienischen Mafia in den 80er und 90er-Jahren und der entsetzlichen Gewalttaten ist die neutrale Haltung des Reporters mitunter irritierend. Aber ihm ging es nicht um eine Analyse des Phänomens, sondern um den Werdegang eines einzelnen Mafioso – Aufstieg und Fall eines Bosses, zugleich ein Lehrstück über die Gesetze des Kapitalismus. Bei Talese kann man sich über die Fakten belehren lassen, die sich in unzähligen Mafia-Filmen zu einem Mythos verdichten sollten.
Rezensiert von Maike Albath
Gay Talese: Ehre deinen Vater
Aus dem Amerikanischen von Gunther Martin
Rogner & Bernhard / Berlin 2008
536 Seiten, 24,90 Euro
Der amerikanische Journalist Gay Talese, Jahrgang 1932, selbst italienischer Abstammung und einer der großen Repräsentanten des new journalism, begegnete dem Mafioso Mitte der 60er Jahre während einer Verhandlungspause auf dem Flur des Bundesgerichts in Manhattan und hatte plötzlich die Idee, diesem Mann eine Reportage zu widmen. Talese drang in den inneren Kreis der Familie vor. Im Verlauf von sechs Jahren kamen Talese und Bill Bonanno immer wieder zusammen; am Ende reiste der Journalist sogar nach Sizilien, um das Dorf der Bonannos Castellammare del Golfo kennenzulernen. "Ehre deinen Vater" heißt sein dickleibiges Buch, in dem er den Clan der Bonannos porträtiert.
Taleses Reportage setzt mit der spektakulären Entführung von Bill Bonannos sagenumwobenen Vater ein. Joseph Bonanno hatte unter den fünf Clans der New Yorker Mafia die längste Amtszeit. Über 30 Jahre führte er die in Brooklyn beheimatete Bonanno-Sippe an. Joe ließe sich sogar als fatale Schlüsselfigur der gesamten Entwicklungsgeschichte der sizilianischen und amerikanischen Mafia begreifen: Bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in seiner Heimat 1957 wurden die Grundsteine für die Beziehungen zwischen beiden Organisationen gelegt. Wie stark die patriarchalen Strukturen Joe Bonannos ältesten Sohn prägten, deutet Talese schon im Titel seines Buches an: Bill, in Arizona aufgewachsen und auf den ersten Blick ein all american boy, fühlt sich den bizarren mafiosen Wertvorstellungen von Ehre und Familie vollständig verpflichtet und bemüht sich, nach dem Verschwinden des charismatischen Vaters der Anführerrolle des Clans gerecht zu werden. In Rückblenden erzählt Gay Talese von der Kindheit und Jugend Bills, seiner Zeit auf dem College, der pompösen Hochzeit im Astor mit Rosalie Profaci, Tochter eines befreundeten Mafiabosses. In eindringlichen Szenen zeichnet er den Niedergang eines Imperiums nach: Bill kann weder aus dem Schatten seines Vaters heraus treten, noch sich den Zugriffen der Justiz entziehen. Das Buch endet mit der Beschreibung eines Gerichtsprozesses, bei dem Bill 1970 schuldig gesprochen und zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt wird.
Die 60er-Jahre waren eine Zeit des Umbruchs: Die Mafia hatte jahrzehntelang ihre Einkünfte über Glücksspiel, Wucher und Schutzgeld bestritten und mit legalen Tätigkeiten verknüpft, doch auf einmal kamen Drogen ins Spiel. In der Kommission war man zerstritten; vor allem die alten Bosse wehrten sich gegen den Handel mit Narkotika, der als unterste Stufe krimineller Machenschaften galt.
Wie in der legalen Wirtschaft kam es zu dramatischen Verteilungskämpfen. Innerhalb der Mafia zeichnete sich ein Zerfallsprozess ab. Außerdem ging der Staat in eine Generaloffensive: Schon 1950 war der erste Ermittlungsausschuss gegen das organisierte Verbrechen eingerichtet worden.
Taleses Reportage erschien bereits 1971, und die Brisanz seiner Darstellung bestand vor allem darin, dass er einem Repräsentanten der Mafia, deren wirtschaftliche Potenz man damals nach und nach bloß legte, so nahe gekommen war. Der Autor wählt einen zurückgenommenen Tonfall, trägt nie dick auf, sondern schildert die Geschehnisse kühl und sachlich. An Brillanz und Spannungsreichtum hat "Ehre deinen Vater" in den letzten 30 Jahren nichts verloren. Allerdings tritt Gay Talese als Beobachter in Aktion und verzichtet auf eine eindeutige Bewertung. Angesichts der dramatischen Entwicklungen der italienischen Mafia in den 80er und 90er-Jahren und der entsetzlichen Gewalttaten ist die neutrale Haltung des Reporters mitunter irritierend. Aber ihm ging es nicht um eine Analyse des Phänomens, sondern um den Werdegang eines einzelnen Mafioso – Aufstieg und Fall eines Bosses, zugleich ein Lehrstück über die Gesetze des Kapitalismus. Bei Talese kann man sich über die Fakten belehren lassen, die sich in unzähligen Mafia-Filmen zu einem Mythos verdichten sollten.
Rezensiert von Maike Albath
Gay Talese: Ehre deinen Vater
Aus dem Amerikanischen von Gunther Martin
Rogner & Bernhard / Berlin 2008
536 Seiten, 24,90 Euro