Katharina Liesenberg, Politische Theoretikerin, lehrt und forscht zu Demokratietheorie und sozialer Ungleichheit. Sie ist Gründerin der Vereine „es geht LOS“ und „mehr als wählen“, die aufsuchende, zufallsbasierte Beteiligungsformate durchführen. Zuletzt erschien von ihr und Linus Strothmann "Wir holen euch ab" (Oekom 2022).
Demokratie und Teilhabe
Politik muss für möglichst viele Menschen erfahrbar werden, weil jede Stimme zählt, findet die Politologin Katharina Liesenberg. © imago images / fStop Images / Malte Mueller
Politik zu den Menschen bringen
Für viele ist es nicht selbstverständlich, dass Politik sie etwas angeht. Die Politologin Katharina Liesenberg findet: Diejenigen muss die Politik aktiv aufsuchen – und dafür auch mal an Haustüren klingeln. Denn in einer Demokratie zählt jede Stimme.
Ich möchte mit ein, zwei Fragen beginnen. Vielleicht dienen Sie Ihnen als Gesprächsanregung für die anstehenden Feiertage oder den nächsten Smalltalk im Büro – oder sie bringen Sie zum Nachdenken über den Zustand unserer Demokratie.
Was hat Sie politisiert? Welche Rolle spielt Politik in Ihrem Alltag und warum?
Das Versprechen der Demokratie ist, dass alle Bürger:innen die Chance auf gleiche, effektive Teilhabe am politischen Prozess haben. Kollektive Handlungsmacht und die Möglichkeit, einen Unterschied zu machen! Das ist es, was den Kern der Demokratie ausmacht. Der Glaube an dieses Versprechen findet sich bei den Protesten im Iran, bei den Aktivist:innen von Black Lives Matter oder historisch in der Arbeiter- und Frauenbewegung.
Doch was, wenn viele Menschen sich gar nicht am politischen Prozess beteiligen? Das wäre dann nicht schlimm, wenn die Entscheidung, sich seine Stimme zu enthalten, aus freien Stücken getroffen wurde. Demokratie bedeutet auch, dass man nicht politisiert sein muss. Die politikwissenschaftliche Forschung lehrt uns jedoch, dass es so einfach nicht ist. Wie und ob Menschen sich am politischen Prozess beteiligen, hängt davon ab, wie hoch ihr Einkommen und ihr formaler Bildungsstand sind. Es sind vor allem gutverdienende Akademiker:innen, die ihre Stimme nutzen.
Geringe Wahlbeteiligung
Bei der letzten Bundestagswahl lag die Wahlbeteiligung bei nur 76 Prozent. Bei den Landtags- und Kommunalwahlen liegen die Werte meist noch deutlich niedriger.
Das ist nicht nur ein Problem, weil es darauf hindeutet, dass viele Menschen sich nicht als Souverän begreifen. Blickt man auf die Gesetzgebung der Parlamente wird eine weitere Verzerrung deutlich: Stratifizierte Beteiligung hat zur Folge, dass sich in der Gesetzgebung nur die Präferenzen derjenigen abbilden, die sich aktiv beteiligen. Kurzum: Wer nicht wählt, dessen Interessen werden auch nicht vertreten.
Sich nicht beteiligen: Das liegt meist an hohen Hürden, an unverständlichen Strukturen und wenig Zeit und Wissen über Politik. Das Versprechen der Demokratie lässt sich nicht für alle Menschen gleich gut verwirklichen.
Zugang zu Politik erleichtern
Was also tun? Zugänge erleichtern und die Politik zu den Menschen bringen! Statt immer wieder die üblichen Verdächtigen bei politischen Veranstaltungen zu erreichen, muss Demokratie in die Vororte, in Vereine, Schulen und Kindergärten. Aufsuchende Beteiligung nennt sich das, und beginnt meist beim Klingeln an einer Haustür.
Ich stand in meinem Leben schon an vielen fremden Türen, vor Wohnblocks mit 100 Klingelschildern oder Reihenhäusern, war in Jugendzentren oder Moscheen. Dort stelle ich ähnliche Fragen wie zu Beginn dieses Beitrags. Welche Rolle spielt Politik in Ihrem Alltag? Wenn Sie einen Tag Bundeskanzlerin wären, was würden Sie ändern?
Das Versprechen der Demokratie muss für alle gelten. Indem Menschen aufgesucht werden und so ihre Meinung niedrigschwellig mitteilen können, erfahren sie, dass sie ein relevanter Bestandteil von Demokratie sind.
Politik geht jeden etwas an
Politik muss für alle erfahrbar werden. Weil jede Stimme zählt. Für viele Menschen ist es nicht selbstverständlich, dass ihre Perspektive wichtig ist und Politik sie etwas angeht. Aufsuchen ist ein Weg solchen Stimmen, die quasi nie gehört werden, mehr Lautstärke zu geben. Es baut Hürden ab und macht Politik auch neben einem Vollzeitjob im Alltag erfahrbar.
Stellen Sie sich vor, Politiker:innen kommen Sie regelmäßig besuchen und an Ihrem Arbeitsplatz gibt es einmal die Woche eine Stunde Zeit für Demokratie. Damit es in zehn Jahren auf die Eingangsfrage heißt: In meiner Firma kann ich mitgestalten. An meiner Haustür und in meinem Sportverein kommen regelmäßig Politiker:innen vorbei und fragen nach, wie ich die Dinge sehe.