Selbstgemachtes Unglück
Mit einem "Kirschgarten", inszeniert von der ungarischen Regie-Legende – und dem Tschechow-Spezialisten - Tamas Ascher, und einem "Hiob" in der Regie von Lisa Nielebock, beginnt am Schauspiel Bochum die Spielzeit: keine Zeit für Experimente, aber immerhin solider Ernst.
Die Bühne (Oliver Helf) im Bochumer "Hiob" ist eine enge, dreieckige, abschüssige Kartonenge, getäfelt mit Laminat, in dem die Familienmitglieder immerzu anwesend sind. Aus diesem Dachstübchen entrinnt keiner, es ist die Enge im Kopf für selbstgemachtes Unglück – oder für die Schläge Gottes, die alsbald Mendel Singer in Eugen Roths "Hiob" treffen werden.
Frontal und starr stehen die sieben Schauspieler meist zum Publikum, in gedeckten Farben gekleidet, eine jüdische Familie im russischen Stetl, bescheiden und brav. Nur Menuchim, der jüngste, fällt aus der Reihe. Die Regisseurin Lisa Nielebock hat den schweigenden, epileptischen Sohn mit einer Frau besetzt: Jana Schulze ist eine androgyne, schmale schuljungenhafte Erscheinung mit strubbeligen Haaren, die leicht mit dem Kopf wackelt. In der Konformität der gottesfürchtigen Familie strahlt sie eine trotzige Andersartigkeit aus, ein Wesen vom anderen Stern der Krankheit oder Kunst. Manchmal rutscht sie von der abschüssigen Fläche in einen epileptischen Anfall oder ruft zart "Mama". Ein schöner Bruch ist mit dieser Gegenbesetzung durch eine junge Frau gelungen.
Fast ohne Requisiten kommt die Inszenierung aus, nur Augenblicke sind die Jahre voneinander entfernt. In der engen Welt der Singers hat man nur zwei Optionen: sich resolut ins Schicksal fügen oder auszubrechen – entweder zum Militär oder zu den Kosaken ins Kornfeld. Nur mit leichtem Beckenkreisen deutet die Schauspielerin Xenia Snagowski die Lüsternheit von Miriam an, mehr braucht es nicht. Auch die Szene, in der Deborah (Irene Kugler) dem Rabbi ihren Körper anbietet, um ihre Söhne zu retten, ist frei von sexuellen Anspielungen. Nur als sie nach Amerika gehen, werden aus einem Bühnenkasten bunte Turnschuhe, Schmuck oder Basecaps geholt und rastlos auf der Stelle getanzt –wohlfeil-zappelige Konsumkritik, die gar nicht nötig gewesen wäre.
Pur und ernst wird es immer, wenn es um Menuchim geht: Erst sitzt der Zurückgelassene noch einsam als verlorene Freiheitsstatue mit einem Plastik-Strahlenkranz in der Ecke. Und während die Schicksalsschläge auf Mendel Singer einprasseln, beginnt sie sich an den Bühnenwänden abzuarbeiten – um schließlich zu melancholisch tropfender Klaviermusik die Dachschräge aufzustoßen, Luft und Licht hereinzulassen und als erfolgreicher Dirigent und Mendels Glück wieder aufzuerstehen. Joseph Roths umstritten-kitschiges Romanende wird auch in Bochum nicht schlüssiger. Und doch wird von Lisa Niehlebock klar herausgearbeitet, dass das Unglück Mendel Singers eben nicht gottgegeben ist, sondern eher in der pessimistischen, fatalistischen Enge in den Köpfen liegt. Ein kraftvoller, purer, kleiner Abend ist hier gelungen – der das Bochumer Publikum zu stehenden Ovationen hinreißt.
Tschechows "Kirschgarten" - etwas enttäuschender
Etwas enttäuschender fällt dagegen am Vorabend Tschechows "Kirschgarten" aus, inszeniert von der 1949 geborenen ungarischen Regie-Legenda Tamas Ascher. In einem pittoresk verstaubten Landhaus mit fleckigen Gardinen, aufs liebevollste von den Werkstätten mit Patina versehen, trifft aus Paris die urlaubsgebräunte Gutsbesitzerin Ranjewskaja (Bettina Engelhardt) mit ihrem Gefolge ein. Solide und heiter grundiert wird der "Kirschgarten" vom Blatt gespielt, unterbrochen sind die vier Akte von grandiosen Licht- und Stimmungswechseln, entwickeln die Darsteller ihr psychologisches Spiel mit einigen Längen. Graumäusig-devot, aber aufrecht trippelt Pflegetochter Warja (Kristina Peters) durch das gestrige Gutshaus.
Hinter gemütlicher Strickjacke hält sich Martin Horn als Ranjewskajas Bruder heraus. Unbedarft und selbstbezogen plappert sich Tochter Anja so durch. Doch Gesellschaftskritik am arrogant und naiv untergehenden Adel übt Tamás Ascher nicht. Ihm gelten eher seine Sympathien: sympathisch-weltabgewandt, elegant und mit viel Haltung stolziert die bessere Gesellschaft in die Not, man hat es einfach nicht nötig, sich um so peinlich weltliche Dinge wie das nötige Kleingeld zu kümmern. Dass Lopachin die Kreißsäge schon ansetzen lässt, als die Familie noch gar nicht abgereist ist, zeigt ihn endgültig als den Proleten, mit dem man auf keinen Fall ein Glas Sekt zum Abschied trinken will. Allerdings hätte Schauspieler Roland Riebeling seinem grundresoluten und in Liebesdingen so ungeschickten Lopachin durchaus noch ein paar Aspekte des bildungsbeflissenen Aufsteigertums hinzufügen können – so wirkt der Unterschied zwischen den Schichten, die hier aufeinandertreffen, stark behauptet. Das Theater wurde an diesem Wochenende nicht neu erfunden. Kurz, nachdem Intendant Anselm Weber seinen Abschied in Bochum für 2017 angekündigt hat, scheint er mit seinem Spielplan auf Nummer sicher zu gehen. Für Experimente ist gerade kein Platz in Bochum. Aber solider Ernst ist ja auch schon etwas.