Bachmannpreis 2021 für Nava Ebrahimi
Die Grazer Autorin Nava Ebrahimi ist die Gewinnerin des diesjährigen Bachmannpreises, der im Rahmen der 45. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt verliehen wurde. Der Deutschlandfunk-Preis ging an die deutsche Autorin Dana Vowinckel.
Die Gewinnerin des Bachmannpreises 2021 ist Nava Ebrahimi. Die im Iran geborene und in Graz lebende Autorin setzte sich mit ihrem Text "Der Cousin" im Stechen gegen Dana Vowinckel durch. Ebrahimis Text kreist um unbekannte Kapitel in der Vergangenheit eines schwulen Tänzers.
Die Berlinerin Vowinckel, die die Jury mit einem Auszug aus dem geplanten Roman "Gewässer im Ziplock" über eine jüdische Familie ebenfalls zu begeistern wusste, wurde mit dem Deutschlandfunk-Preis ausgezeichnet.
Der KELAG-Preis geht nach einer weiteren Stichwahl an den ebenfalls in Berlin lebenden Necati Öziri für seinen bewegenden Text in Briefform an einen unbekannten Vater: "Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben".
Der nach der Autorin Ingeborg Bachmann (1926 - 1973) benannte Hauptpreis ist mit 25.000 Euro dotiert und wird im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt vergeben. Die Veranstaltung fand in diesem Jahr zum 45. Mal statt.
In diesem Jahrgang gab es deutliche inhaltliche Schwerpunkte: Es dominierten Texte über Migrationserfahrung, die thematisieren, wie sich Traumata in nachfolgende Generationen fortschreiben. Dabei sei aber "die Haltung der Texte, der Ton, der ästhetische Zugriff ganz und gar unterschiedlich". Insofern handle es sich um einen "durchaus vielstimmigen Wettbewerb", wie die Literaturjournalistin Wiebke Porombka betont.
An dem Siegertext
gefällt Porombka vor allem [AUDIO]:
"Dieser Text handelt nicht einfach von Gewalterfahrung und Traumata, die auf Migration folgen können, oder erzählt von dem Schweigen in Familien, das sich nach einer solchen Erfahrung einschreibt, sondern Nava Ebrahimi stellt Fragen: Wie kann man überhaupt über eine solche Erfahrung erzählen, wie kann man ihr Ausdruck verleihen."
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Die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sind am 16. Juni eröffnet worden. Pandemiebedingt ist es bereits der zweite virtuelle Wettbewerb.
Die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sind am 16. Juni eröffnet worden. Pandemiebedingt ist es bereits der zweite virtuelle Wettbewerb.
Der dritte Tag in Klagenfurt
Mit einer jüdischen Familiengeschichte wusste die Autorin Dana Vowinckel, Jahrgang 1996, das Interesse der Jury zu wecken. Sie las einen Auszug aus einem geplanten Roman "Gewässer im Ziplock": Aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet dieser den Alltag eines jüdischen Mädchens, das die Ferien bei seiner Großmutter in Chicago verbringt, und blickt zugleich auch auf ihren Vater, der in Berlin-Prenzlauer Berg Kantor der jüdischen Gemeinde ist.
Recht einmütig erteilte die Jury Lob für Vowinckel: Die Jury-Vorsitzende Insa Wilke sieht im Text "tolle Anlagen", Vea Kaiser finde das Konzept, die Geschichte aus zwei Perspektiven zu erzählen "grandios gelungen" und Mara Delius lobt: Der Text erzähle von drei jüdischen, nicht orthodoxen, Erfahrungswelten, von drei Generationen mit greifbarer Präsenz. "Dana Vowinckel, die jüngste Autorin in diesem Jahr, hat überzeugt."
Nicht ganz so einig waren sich die Juroren bei den anderen Beirägen des dritten Tages: "Mein Freund am See" von Timon Karl Kaleyta sei ein gelungenes Beispiel für "pure Gewalt in naivem Kostüm", hieß es einerseits. Doch andere Jurymitglieder bemängelten Kaleytas "tumbe Sprache" und Schwächen in der Struktur des Textes.
Von "beeindruckend" bis "so mittel"
Selbst der Text "Der Cousin" der später zur diesjährigen Siegerin gekürten Nava Ebrahimi stieß nicht auf einhelliges Lob. Zwar sei der Text eine "beeindruckende Komposition". Doch Juror Philipp Tingler bemängelte Klischees und findet den Text insgesamt nur "so mittel."
Die dritte Autorin des Tages, Nadine Schneider, konnte mit ihrem Vorstellungsvideo, das die studierte Musikwissenschaftlerin als eher zögerliche, introvertierte Person zeigte, überzeugen. Während aber Juror Tingler den Text "hinreißend" fand, urteilten andere über "Quarz": Die Geschichte über eine Familie, die in ein Dorf zieht und sich zu integrieren versucht, sei durch und durch konventionell.
Der zweite Tag in Klagenfurt
Eine Zigarre, ein veganes Menü und eine Schneidersitzgesellschaft: Leander Steinkopfs "Ein Haus am See" ließ die Jury abermals zwiegespalten zurück. Jury-Vorsitzende Insa Wilke bemängelte das Spießige der Motivebene. Literaturkritiker Carsten Otte hielt den Text
im Büchermarkt im Deutschlandfunk
für einen eher schwachen Auftakt, der von einem Klischee zum nächsten schlingere (AUDIO).
Ebenfalls uneins war die Jury beim Text "Anfang und Ende" des Schweizers Lukas Maisel. "Langweilig, nein: sterbenslangweilig" fand Kritiker Christoph Schröder die Geschichte über ein Paar, das sich bei Tinder kennengelernt habe. "Telenovela, Bravo-Foto-Lovestory" ergänzte Carsten Otte.
Ein Highlight des zweiten Tages sei hingegen Verena Gotthardts "Die jüngste Zeit". Der Text sei formal sehr herausfordernd, da Gotthardt darauf verzichte, eine Geschichte zu erzählen. Christoph Schröder war ebenfalls angetan: Der sehr atmosphärische Text, der fast impressionistisch Bilder aneinanderreihe, handele "vom Vergehen der Zeit und vom allmählichen Verschwinden der Menschen in ihr."
Der erste Tag in Klagenfurt
"Erfreulich vielstimmig" sei der erste Wettbewerbstag in Klagenfurt gewesen,
findet Literaturredakteurin Wiebke Porombka
(AUDIO). Das zeigten auch die verschiedenen Rezeptions- und Leseweisen, "vielleicht auch -kompetenzen" der Jury. Jurymitglied Vea Kaiser etwa reagiere sehr emotional auf Texte, man könne darüber streiten, ob diese Haltung in Klagenfurt ihre Berechtigung habe.
Necati Öziris Text sei ein Brief an den abwesenden Vater, der "sehr viel politische Verheerung im Hintergrund spielen hatte, der sehr viel Emotionalität gebündelt hat, der sehr viel über persönliche Katastrophen erzählt." Heike Geißlers "Die Woche" hingegen versorge uns nicht mit Antworten, er fordere Auseinandersetzung, das Denken.
Bei Katharina J. Ferners "1709,54 Kilometer" handele es sich um ein avantgardistisches Experiment, das umweltpolitische Verheerungen unserer Zeit auslote. "Die andere Frau" von Magda Woitzuck erzähle von einem Ehepaar, das sich auseinandergelebt hat. Aus Sicht der Kritikerin eine eher schlichte und konventionelle Geschichte.
Julia Webers Text arbeitet mit Verweisen
Highlight war für Wiebke Porombka schon am Vormittag des ersten Tages Julia Webers Text "Ruth". Für die Kritikerin war damit gleich die erste Kandidatin eine
Favoritin für den Bachmann-Preis
(AUDIO): "Eine Mischung aus Berückung und Bedrückung, aus traurig und im besten Sinne verstörend" sei Webers Text gewesen.
Der Text arbeite mit literarischen Anspielungen. Wenn Ruth von ihrem Glanz spreche, denke sie an "Das kunstseidene Mädchen" von Irmgard Keun, den berühmten Roman aus der Weimarer Republik. Dort gehe es um die "Aufstiegsversuche einer jungen Frau, die an den Zurichtungen der Gesellschaft" scheitere.
Die Favoriten der neuen Jury-Vorsitzenden
Die Kritikerin und neue Bachmannpreis-Jury-Vorsitzende Insa Wilke hat die Autoren Heike Geißler und Necati Öziri nach Klagenfurt gebracht. Ihre Texte seien in den Bewerbungen, die bei ihr eingegangen sind, literarisch herausragend gewesen, "und zwar wirklich mit Abstand", sagte Wilke im Interview mit Deutschlandfunk Kultur. Heike Geißlers Text versuche ein Verhältnis zum Sprechen in unserer Zeit zu finden. Der Text gibt laut Wilke eine ästhetische Antwort auf politische Problemlagen.
Eine ganz andere literarische Form wähle Öziris Text: ein Brief an den abwesenden Vater. "Ich fand ihn besonders stark", erklärt Wilke, "weil er auf eine sehr spezielle Weise Emotionen orchestriert. Dazu kommt ein großer politischer Rahmen, in dem die Geschichte der Türkei und großen gescheiterten Revolutionen eine Rolle spielt."
Der Umgang miteinander ist höflicher als im letzen Jahr
Im Deutschlandfunk sprachen Literaturkritikerin Katrin Schumacher und Autor und Kritiker Christoph Schröder mit Moderator Jan Drees
über den ersten Tag
(AUDIO). Christoph Schröder wünschte sich dabei für die nächsten Tage "Klagenfurt-Momente". Wenn der Autor lese, gehe im besten Fall ein kleiner elektrischer Stromstoß durch das Publikum und heraus komme etwas, das preiswürdig sei.
Für ihn war der erste Tag ein eher schwächerer Tag, er freue sich auf bessere Texte. Die Jury sei noch dabei, sich zu finden. Im Gegensatz zu dem sehr lauten, streitbaren atmosphärischen Gefühl im vergangenen Jahr sei der Umgang miteinander zwar höflicher. Für ihn werde aber "etwas zu viel gefühlt", man sei "etwas zu viel den Tränen nah".
Rede über die Möglichkeiten der Literaturkritik
Traditionell war der Abend am Mittwoch mit einer "Rede zur Literatur" gestartet, diesmal gehalten vom langjährigen Juryvorsitzenden Hubert Winkels.
Er sei in Sorge um die Literaturkritik, warnte Winkels. Und auch die Literatur sei dabei, an Wert zu verlieren. Ihr Stellenwert im Feuilleton werde geringer, Literatursendungen würden eingestellt. "Die Art, mit Literatur umzugehen, leidet unter einer Form der populären Darstellung, ein bisschen der Zwanghaftigkeit, die Klickzahlen zu erhöhen", begründete er seine Sorge im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur.
Das setze die Literaturkritik - ein "extrem wichtiges Gut" - unter Druck, meint Winkels.
Der Wettbewerb legt viel Wert auf Austausch
Der Wettbewerb sei mitunter ein "seltsames Arrangement" gewesen, so Winkels, verdammend, mitunter aus der Literatur ausschließend. Doch das habe sich im Laufe der Jahrzehnte geändert. Die Mentalität der Juroren sei eine andere, dadurch sei die Angst auf der Seite der Autoren geringer geworden. Das habe sich "klimatisch komplett gedreht".
Der Wettbewerb in der jetzigen Form habe eine Form gefunden, "die eher zeigt, wie kluge Gedanken auf gute Texte reagieren können und deren Energie weitertransportieren können."
Zeitmaß des Aktuellen als Taktgeber
In seiner Rede zur Literaturkritik am Abend betont Winkels, wie sehr er die Möglichkeit schätze, zu keinem expliziten Urteil gelangen zu müssen. Es gebe keine apodiktischen Urteile mehr, der höchstrichterliche Kritikergestus habe ausgedient. Im besten Fall entstehe in der Diskussion über Texte so viel Plastizität, dass ein aktuelles Urteil im Sinne von "gefällt mir", "gefällt mir nicht" ausbleiben könne.
Zugleich kritisiert er die "banalisierenden Tendenzen" im Umgang mit den schönen Künsten, die "Kunstabwehr" durch das Feuilleton. Es gehe um nicht weniger als die "Bewahrung eines Raumes der anspruchsvollen Darstellung". Es sei kein Zufall, dass die einzige verbleibende Literatursendung im deutschen Fernsehen auf Literaturkritiker verzichte. Die Kunst werde beargwöhnt, sie säße eher am Katzentisch der kulturellen Öffentlichkeit.
14 Teilnehmende und jede Menge Diskussionen
Vom 17. bis 20. Juni erwartet die Zuschauenden ein vielfältiges Programm. Im ORF-Theater in Klagenfurt diskutieren die vier weiblichen und drei männlichen Jury-Mitglieder mit den zugeschalteten Autorinnen und Autoren von Donnerstag bis Samstagvormittag. Zu den Eingeladenen zählen unter anderem Nava Ebrahimi, Verena Gotthardt, Lukas Maisel und Necata Öziri.
Insgesamt fünf Preise werden vergeben, darunter der von Deutschlandradio gestiftete Deutschlandfunk-Preis und der Publikumspreis, für den Literaturfans am Samstagnachmittag abstimmen können. Der 45. Bachmannpreis wird am Sonntag, 21. Juni verliehen. Der ORF und Medienpartner Deutschlandfunk übertragen die Preisverleihung ab 11 Uhr.
(ros/mkn/dpa)