Auftakt zur religiösen Aufrüstung

Von Barbara Wahlster |
Die blutige Hypothek, mit der die britische Kolonialmacht Indien am 15. August 1947 in die Unabhängigkeit entließ, war die Teilung des Subkontinents entlang religiöser Mehrheiten: in die vorwiegend hinduistische Indische Union und in ein mehrheitlich muslimisches Pakistan mit zwei Teilen, aus dessen östlichem 1971 Bangladesh entstand.
Bürgerkriegsähnliche Kämpfe zwischen religiösen Gruppen sowie Massenflucht waren die Folge. Nach Schätzungen sind mehr als zehn Millionen Menschen zwischen 1947 und 1950 geflohen. So erlebte Delhi etwa einen Bevölkerungsaustausch ungekannten Ausmaßes. Noch heute kommt es in Indien zu Pogromen gegen Muslime. Auch das Wettrüsten zwischen Pakistan und Indien geht zurück auf die Geschichte der Teilung.

"Unser Land ist geteilt worden 1947." Ich sagte, ich hätte gedacht, das sei das Jahr der Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, und er erwiderte: "Ja, das auch. Aber kaum waren wir frei, wurden wir aufgeteilt". Er malte mit dem Finger ein X auf die Tischplatte: "Wie ein Kuchen. Die Hindus hier, die Moslems dort. Dhaka gehört nicht mehr zu uns." Während der Teilung, so erzählte er, hätten Hindus und Moslems sich gegenseitig ihre Häuser angezündet. Für viele sei es noch heute undenkbar, in Gegenwart des jeweils anderen zu essen.

Ich begriff nicht. Mr. Pirzada und meine Eltern sprachen dieselbe Sprache, sie lachten über dieselben Witze und sahen mehr oder weniger gleich aus. Sie aßen eingelegte Mangos zu den Mahlzeiten und führten den Reis mit den Fingern zum Mund. Wie meine Eltern zog sich auch Mr. Pirzada die Schuhe aus, bevor er ein Zimmer betrat. () Doch mein Vater bestand darauf, mir den Unterschied klarzumachen, und führte mich zu der Weltkarte ..." (1, J. Lahiri, S. 39 ff)

Jhumpa Lahiri, 1967 in London geboren, lebt heute in den USA. Im Jahr 2000 erhielt sie den renommierten Pulitzer Preis für ihren ersten Erzählungsband "Melancholie der Ankunft".

Butalia: "Es war eine politische Lösung, und dabei setze ich das Wort 'Lösung' in Anführungszeichen, denn es war schließlich alles andere als eine Lösung. Die Maßnahme war angezeigt im Hinblick darauf, wie die Kolonialmacht die politische Macht an Indien weiterreicht und was mit den politischen Widersprüchen und Spannungen zu geschehen habe. Ich denke, schlussendlich war es der Preis, den unsere Politiker dafür gezahlt haben, dass sie an die Macht kamen: sowohl in Indien, als auch in Pakistan."

Die Schriftstellerin und Verlegerin Urvashi Butalia hat 1998 mit ihrer Studie "Die andere Seite des Schweigens" zum ersten Mal sonst nur im privaten Kreis erzählte Geschichten von Leidtragenden und Betroffenen veröffentlicht, erschütternde Zeugnisse eines Zivilisationsbruches, jenseits der nüchternen Zahlen des Chronisten.

Die Teilung bewirkte einen regelrechten Exodus. 12 bis 15 Millionen Menschen flohen in den Provinzen Punjab und Bengalen jeweils auf die andere Seite der willkürlich festgelegten Grenzen. Muslime vorwiegend nach Pakistan, Hindus und Sikhs auf indisches Territorium: 400.000 Personen umfasste der größte Flüchtlingstreck. Mehr als eine Million Männer, Frauen und Kinder fielen grausamen Massakern zum Opfer, die als ethnische Säuberung gelten. Um dem Feind nicht in die Hände zu fallen, begingen viele Frauen Selbstmord oder wurden von ihren eigenen Leuten getötet. Etwa 75.000 Frauen wurden entführt, vergewaltigt, gefoltert. Komitees versuchten in beiden Staaten später eine Rückführung der Opfer.

"Wenn ich an die wiedergefundenen Frauen und Mädchen dachte, sah ich nur dicke Bäuche vor mir. Was würde aus ihnen werden? Wem gehörte diese Leibesfrucht, Pakistan oder Indien? Wer würde die Mütter für das Austragen entlohnen, Pakistan oder Indien? Würde das alles im Kontobuch der grausamen Natur registriert werden? Aber gab es darin überhaupt noch eine freie Stelle?" (2, S. H. Manto, S. 117)

Saadat Hassan Manto, ein bedeutender Urdu-Schriftsteller: er wurde 1912 in der Provinz Punjab geboren und ist 1955 in Pakistan gestorben.

Butalia: "Ich glaube, in vielen Fällen haben sich vor allem die Täter geäußert. Sie sind es, die sich in Indien lauthals artikulieren, und häufig stellen sich viele der extrem gewalttätigen Hindus als Opfer dar. Die Opfer selbst dagegen schweigen. Vor allem wenn es Frauen sind, denn ihnen fällt es besonders schwer, über ihre Erfahrungen zu sprechen."

Auch nach 60 Jahren ist auf keiner Seite der Grenze Platz für ein offizielles Gedenken der Opfer, kein Monument oder Mahnmal erinnert an ihr Schicksal.

"Ich höre Namen – Gandhi, Jinnah, Nehru, Iqbal, Tara Singh, Mountbatten. Und ich werde mir religiöser Unterschiede bewusst. Ganz plötzlich. An einem Tag sind alle sie selbst – und am nächsten Tag sind sie Hindus, Moslems, Sikhs, Christen. Die Menschen schrumpfen, laufen zu bloßen Symbolen ein. Aya ist nicht mehr einfach meine allumfassende (Amme) Aya – sie ist auch ein Zeichen. Eine Hindu. Im Überschwang ihrer neu entfachten Frömmigkeit investiert sie ein kleines Vermögen in Räucherstäbchen, Blumen und Süßigkeiten für die Götter und Göttinnen in den Tempeln.
Imam Din und Yusaf verwandeln sich in religiöse Fanatiker und kündigen Mutter an, dass sie sich künftig den Freitagnachmittag für die Juma-Gebete frei nehmen werden." (3, B. Sidhwa, S. 115)

Bapsi Sidhwa, 1938 im damals noch indischen Karachi geboren. Die Schriftstellerin lebt heute in den USA.

Hussein: "Geschrieben wurde, noch bevor das Blut richtig trocken war, - entschuldigen Sie bitte diese schreckliche Metapher, doch leider trifft sie in diesem Fall wirklich zu – und zwar auch in Pakistan. Weil viele Schriftsteller selbst betroffen waren, weil sie das Leiden der anderen sahen. Ich gehe sogar davon aus, dass viele ihre Geschichten geschönt haben, als ob sie sich damit rechtfertigen könnten, den Übergang geschafft zu haben und noch am Leben zu sein."

Der Schriftsteller und Kritiker Aamer Hussein lebt heute in London, geboren wurde er 1955 im bereits pakistanischen Karachi, obwohl sein Vater nie vorhatte, Indien zu verlassen. Aamer Hussein unterstreicht, dass von Anfang an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, auf beiden Seiten der Grenze, die Erschütterungen jener Zeit mitsamt ihren Nachwirkungen thematisieren, Trauer, Wut und Ekel formulieren, anklagen, erinnern und Zeugnis ablegen; oder auch wie Saadat Hassan Manto die Absurditäten der Teilung beschreiben, wenn ehemalige Freunde in den nun ebenfalls geteilten Streitkräften gegeneinander kämpfen sollen in Kaschmir etwa. Oder wie Nervenheilanstalten zwei Jahre nach der Teilung ihre Insassen nach Religionen sortieren und ins jeweils andere Land "ausführen". Immer wieder geht es ihnen jedoch um die Frage, wie aus "Nachbarn Feinde wurden". Wieso Religionszugehörigkeit und noch dazu entlang zweier großer Trennungslinien zum entscheidenden Kriterium hat werden können – zum Freischein für unglaubliche Bestialitäten, jeden nur denkbaren Gesetzesbruch und zum willkommenen Anlass, alte Rechnungen zu begleichen.

Die Realität Indiens vor der Teilung war extrem hierarchisch, geprägt vom Nebeneinander zahlreicher Ethnien, Sprachen und Kasten, von lokalen Sitten in einer Vielzahl von Fürstentümern mit einer stark gefächerten religiösen Landkarte: Hindus, Muslime und Sikhs, Jains, Parsen, Christen und Buddhisten sowie etliche Naturreligionen.

Diese Unterschiede zu definieren, zu klassifizieren und auszubeuten, so dass schließlich die religiösen Zuordnungen das Mosaik deutlich strukturierten, war Bestandteil des kolonialen Projektes der Briten. Damit ließen sich auch unterschiedliche Gruppen gegeneinander ausspielen.

Es kamen so Identitäten und Differenzen ins Spiel, die bis heute eine tödliche Falle darstellen. Obwohl Mahatma Gandhi, die legendäre Gestalt des Freiheitskampfes gegen die Briten und sein Weggefährte, der spätere Premier Jawaharlal Nehru, von der Idee eines säkularen oder laizistischen Staates ausgingen: Heterogen in seiner Zusammensetzung, ausgleichend durch seine Gesetzgebung. Ihnen galten die Muslime als integraler Bestandteil der künftigen Nation. Zumal keineswegs alle Muslime das indische Territorium verlassen hatten. Doch die Herzenseinheit mit den Muslimen, von der Gandhi sprach, blieb Illusion. Am 30.Januar 1948 wurde er von einem Hindu-Fundamentalisten ermordet.

"Gandhi ist unser Feind Nummer eins. Er sagt: 'Finger weg von den Moscheen und muslimischen Häusern.' Ich würde ihn gerne fragen: 'He, alter Mann, wenn wir ihnen ihre Moscheen und ihre Häuser lassen, wo sollen wir dann leben? Auf der Strasse? Es steht dir nicht an, so daherzureden.'
Die Pakistanis marschieren in Kaschmir ein. Wir rechnen täglich damit, dass Indien Pakistan den Krieg erklärt. Aber Ghandi krächzt weiter von Frieden und Liebe. Und als wenn das nicht schon schlimm genug wäre, behauptet er auch noch, dass Indien Pakistan sehr viel Geld schulde und diese Schuld unverzüglich begleichen müsse." (4 K. Singh, Delhi, S. 387 ff)

Kushwant Singh, 1915 im Punjab, dem heutigen Pakistan geboren, versucht die Mentalität der anti-muslimischen Hindus nachzuzeichnen.

Hussein: "Zehn, elf Jahre nach der Teilung trat seltsamerweise erst einmal Schweigen ein. Die Leute hörten auf, ihre Terrorerfahrungen zu artikulieren. Und viel später erst begann die Zeit der stillen Reflexion mit jemandem wie Attia Hossein. In den 70er Jahren wurde es dann ganz still. Nach 1979 etwa thematisierten vor allem in Indien Schriftstellerinnen wie Anita Dessai die unspektakulären Seiten von verlassenen Städten, von Brüchen und Schnitten innerhalb der Familien. Und dann natürlich 1981 Salman Rushdie mit seinen Mitternachtskindern."

Der Roman beginnt mit der Geburt seines Helden in der Nacht der Entlassung in die Freiheit und kommt immer wieder zurück auf die indisch-pakistanische Geschichte und die gefährdete Existenz von Muslimen vor und während der Teilung. Der 1947 in Bombay geborene Schriftsteller erhielt für "Mitternachtskinder" den Booker Preis und hat die englischsprachige indische Literatur maßgeblich beeinflusst.

Hussein: "In den 80er Jahren kehrte das Thema der Teilung in Pakistan zurück – und zwar vorwiegend auf Englisch – Kamila Shamsi war wichtig. Nun schrieb vor allem eine Generation, die nur indirekt betroffen war und die damals zum Teil noch gar nicht geboren war."

Wie auch Jhumpa Lahiri, die die Folgen von Flucht und Exil, die bleibende Sehnsucht, die zerstückelten Biographien, die Fremdheit und Ablehnung in der aufnehmenden Gesellschaft als Tochter von Immigranten im Westen aus eigener Erfahrung kannte. Sie schildert in ihrer Erzählung "Wenn Mr. Pirzada zum Essen kam" Lernprozesse ihrer zehnjährigen Protagonistin. Die Fernsehnachrichten mit den endlosen Flüchtlingstrecks nach Indien aktivieren bei den Erwachsenen die Erinnerung an 1947. Hatte der Vater früher noch den nationalen Unterschied zu dem Gast betont, sieht das Kind nun – allerdings weit entfernt vom Kriegsgebiet - etwas ganz anderes:

"Am deutlichsten aber erinnere ich mich daran, dass sich die drei in dieser Zeit so verhielten, als wären sie eine einzige Person, als würden sie sich eine einzige Mahlzeit, einen einzigen Körper, ein einziges Schweigen und eine einzige Angst teilen." (5, J. Lahiri, S. 59)

Ost-Bengalen, nordöstlich von Kalkutta und Tausende von Kilometern von Pakistan entfernt, führte 1971 einen nachgeholten und nach dem Eingreifen der indischen Armee erfolgreichen Unabhängigkeitskrieg – gegen die Vorherrschaft von Islamabad, gegen die Unterdrückung der eigenen Sprache und Kultur. Seither gibt es den unabhängigen Staat Bangladesch.

Doch haben auch einschneidende innerindische Ereignisse die Erinnerung geweckt und die Leiden von einst wieder ans Tageslicht geholt. Für die Sikhs, eine relativ kleine, 500 Jahre alte Religionsgruppe vornehmlich aus dem Osten der Provinz Punjab geflohen, kehrten die Echos der Teilung in einer traumatischen Wiederbelebung zurück. Obwohl ursprünglich als Reformbewegung gegen das strenge Kastenwesen entstanden, galten sie als Hindus und diese Nähe machte sie in den Wirren der Teilung zu Tätern gegenüber Muslimen sowie zu deren Opfern.

1984 überfiel die indische Armee an einem hohen Feiertag auf der Suche nach einem "Terrorverdächtigen" den Goldenen Tempel von Amritsar, das bedeutendste Heiligtum der Sikhs. Daraufhin erschossen am 31.Oktober 1984 zwei Sikhs die Ministerpräsidentin Indira Gandhi. Sie waren Angehörige ihrer Leibgarde. Unmittelbar danach brachen Pogrome gegen Angehörige der Sikh- Gemeinschaft aus, eine regelrechte Orgie der Rache. Khushwant Singh, einer der prominentesten Autoren, Journalisten und zeitweise auch Politiker Indiens zwingt die Leser seines Romans "Delhi" von 1989 hinzusehen:

"'Verbrennt den Bastard zusammen mit seinem Heiligen Buch!' ruft einer. Sie gießen ihm Benzin über die Haare, spritzen es auf seinen Bart und stoßen ihn in den brennenden Scheiterhaufen. Er schrumpft zusammen, ist nur noch ein brennender Körper. Sie stoßen ein Triumphgeheul aus: 'Indira Gandhi lebe ewig!' Meine Knie geben nach und ich setze mich in den nassen Rasen. Ich mache mir in die Hose. Sie ziehen am Scheiterhaufen des Priesters vorbei zum Taxistand. Sechs unbewaffnete Taxifahrer stehen einem bewaffneten Mob gegenüber, der inzwischen auf über zweihundert Leute angewachsen ist. Aus den Beschimpfungen werden Steinwürfe. Eine Gruppe bewaffneter Polizisten beobachtet den ungleichen Kampf, ohne sich von der Stelle zu rühren." (4, Khushwant Singh, Delhi, Seite 415 ff)

Butalia: "Die Sikh-Gemeinschaft war total schockiert und traumatisiert, weil ihre Mitglieder so etwas niemals erwartet hätten 'in unserem eigenen Land' wie sie sagten. Sie hatten das während der Teilung erlebt, und 1984 brachte ihnen die Erinnerungen aus jener Zeit zurück. Da begannen sie darüber zu reden. Und Leute wie ich, aus der ersten Generation nach der Teilung, wir waren plötzlich gezwungen zuzuhören. Dieser Augenblick wirkte für mich und meine Generation wie ein Katalysator."

Die Erinnerung kehrt also in Wellen zurück, wird in unterschiedlichen Versionen übermittelt, benutzt. Die Literatur sucht sich immer wieder Konstellationen und Themen, um die nicht enden wollende Erbschaft der Teilung genauer zu fassen. Dazu gehört auch der zwischen Indien und Pakistan wiederholt in Kriegen ausgetragene Konflikt um die Region Kaschmir, wo es auch heute noch nahezu wöchentlich zu Anschlägen kommt. Aufgrund von Anti-Hindu Pogromen verließen etwa 1990 mehr als 100 Tausend Flüchtlinge das überwiegend muslimische Gebiet. Quer durch Indien hält ihr Schicksal die Erinnerung an ein verlorenes Paradies wach, nährt Ressentiments, Wut und Verdächtigungen.

Muslime stehen unter Generalverdacht und werden auch im säkularen Indien, der größten Demokratie der Welt, immer wieder zur Zielscheibe – und zwar keineswegs nur von "alltäglichen" Diskriminierungen.

Bereits die Freiheitsbewegung war unterfüttert mit einer kulturellen und religiösen Hindu-Renaissance, deren radikale Ausprägung allerdings keine Chance hatte, zumal Gandhis Mörder aus diesen Kreisen kam. Die sogenannte Hindutva-Bewegung steht für eine Nation, ein Volk, eine Kultur. Sie hat sich den Schutz der heiligen Kühe ebenso auf die Fahnen geschrieben wie die Aufrüstung zur nuklearen Macht. Es geht um weit mehr als nur um eine gegen Pakistan gerichtete indische Identität. Militant betreiben diese Kräfte die gesellschaftliche Ächtung und den Ausschluss der angeblich unindischen Minderheiten, auch der Ureinwohner und schüren darum "kommunale Gewalt".

So nennt man in Indien religiös motivierte Gewaltanwendung und den gegen bestimmte Gruppen gerichteten Hass.

Die Menschenrechtsaktivisten Shabnam Hashmit hat Erfahrung in der Auseinandersetzung mit extremistischen Gruppen:

Hashmi: "Hauptsächlich geht die kommunale Gewalt in Indien von den Hindutva-Kräften aus, nicht von den Hindus, sondern von organisierten Gruppen. Die RSS etwa, eine faschistische Partei, wurde bereits 1925 gegründet. Es geht ihnen um die Reinheit der arischen Rasse, der hochkastigen Hindus. Das ist die Mutter-Organisation aller rechten Organisationen; Hunderte davon gibt es mittlerweile. Ihr politisches Gesicht ist die BJP."

Die Bharatiya Janata Party oder BJP. Dieser Verbund zahlreicher Hindu-nationalistischer zum Teil auch paramilitärischer Organisationen gehörte zwischen 1998 und 2004 zur Koalition der Zentralregierung in Neu Delhi.

Vor allem aber war sie maßgeblich verantwortlich für zwei Ereignisse, die viele indische Muslime veranlasst haben, im Westen ein neues Leben anzufangen.

1992 erfolgte die lange propagandistisch vorbereitete Zerstörung der 500 Jahre alten Babri Moschee in Ayodhya im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh. Unterschiedliche Hindu-Organisationen hatten dort ihre Anhänger zusammengezogen. Sie verübten Lynchmorde an Muslimen, Brandstiftungen, Plünderungen. Laut BBC/London griffen die Sicherheitskräfte erst nach 72 Stunden ein.

Die Stadt gilt als Hort glorioser Hindu-Vergangenheit und die barbarisch exekutierte Wiederaneignung kann wie ein Akt archaischer Säuberung interpretiert werden.

2002 kam es in einem Grenzgebiet zu Pakistan, im stark industrialisierten Bundesstaat Gujarat, zu Pogromen gegen Muslime. Von 3000 Opfern gehen unabhängige Organisationen aus. 140 000 Menschen flohen und blieben ohne Hilfsmaßnahmen von Seiten der Behörden. Shabnam Hashmi aus Delhi hat Betroffene betreut.

Hashmi: "Ich habe in Gujarat mit unterschiedlichen Gruppen gearbeitet und dabei wurde ich ganz persönlich Zeugin von einem solchen Ausmaß an Hass, wie ich es früher nirgendwo sonst in Indien angetroffen habe. Da wurde klar, dass wir den Wettbewerb mit den Rechten nur gewinnen können, wenn wir ihnen sowohl intellektuell als auch jeweils vor Ort entgegentreten. Vor allem deshalb haben wir eine Organisation gegründet zur politischen Bildung gegen die Hass-Ideologie."

Im Zentrum dieses kulturellen und politischen Kampfes um die Definition von "Indianness" statt "Hindutva" steht die Interpretationshoheit über die indische Geschichte.

Kakar: "Wir haben eigentlich jetzt zwei vorherrschende Geschichtsschulen. Eine kann man die Rechte nennen. Da heißt es, Hindus und Muslime, die zwei religiösen Gruppen in Indien, waren immer in Konflikt. Und es fing an, als die Muslime vor 1000 Jahren kamen, um ihr Reich dort errichteten. Die haben versucht Hindus zu Muslimen zu machen, haben Gräueltaten begangen und alles Mögliche. Die Hindus waren zwar immer dagegen, konnten jedoch nichts tun und ihre ganze Wut kommt jetzt, wo sie etwas tun können, heraus."

Die BJP ließ die Geschichtsbücher entsprechend umschreiben. Das heute regierende Linksbündnis antwortet mit seiner Version ...

Kakar: "… dass Hindus und Muslime immer gut zusammen gelebt haben, die haben voneinander sehr viel gelernt. Musik ist gemeinsam, Architektur ist gemeinsam, es hat sich eine indo-muslimische Kultur entwickelt. Und es sind lediglich politische Machenschaften, die diese Differenzen betonen und Konflikte schaffen. Und die Sache ist: beide sind wahr. In Frieden herrscht diese Zweite, wir sind zusammen, Unterschiede sind nicht wichtig, wir sind freundschaftlich, wir sind Brüder. In Zeiten der Spannung kommt diese andere Geschichte hoch. Es kommt darauf an, was die Situation ist."

Der indische Psychoanalytiker und Schriftsteller Sudhir Kakar kennt die Spannungen, Gewaltausbrüche, tödlichen Übergriffe und Brandstiftungen, die sich auch heute noch wiederholen.

Trotzdem sind das alles keine zufälligen "Entladungen", sondern Ausdruck institutionalisierter Gewalt zwischen Gruppen. Dabei tun sich oft genug auch Polizei, kriminelle Elemente, interessierte Geschäftsleute und Politiker zusammen und "produzieren" diese Gewaltexzesse, um Herrschaftsansprüche zu markieren, Stadtviertel zu säubern und damit sowohl soziale als auch politische, ökonomische und vor allem symbolische Dominanz zu erreichen.

"Bombay, die Stadt unserer Geburt wird zu einem fernen Flimmern verblassen. Sie war es nicht wert, werde ich mir sagen. Und ich werde es immer wieder sagen, wie ein Mantra, wie ein Dua-Gebet, sie war es nicht wert, sie war es nicht wert. Und wenn selbst dann meine blödsinnigen nostalgischen Gefühle nicht nachlassen wollen, werde ich mich an die Schutzgeldforderungen erinnern, die versteckten und offenen religiösen Verunglimpfungen, die Krawalle und deren Folgen, die neugeborene Nichte mit dem Hindu-Namen Nidhi, die umgeschriebenen Geschichtsbücher, die Schikanen auf dem Passamt. War es denn nicht genug, war es nicht genug, dass wir in unseren Ghettos gelebt und in unseren Löchern gearbeitet und unsere Steuern bezahlt und keine Gegenleistung verlangt haben?
Die Leinwand im Flugzeug wird ein blaues Indien zeigen; und den Weg, den die Maschine jeweils zurückgelegt hat, eine weiße Linie wie ein anämischer Bandwurm im Bauch einer kranken Nation.
Ich werde mich in meinem Sitz zurücklehnen und so tun, als würde ich unbeschwert atmen. Vergiss es, werde ich mir sagen, lass los. Sie sollen es haben, sie sollen haben, wofür sie Geistliche getötet, Moscheen dem Erdboden gleichgemacht, Landsleute verjagt haben.
Sollen sie ihr Hindustan für die Hindus haben." (7, A. Tyrewala)

Altaf Tyrewala, 1977 in Bombay geboren, in seinem Debütroman "Kein Gott in Sicht" von 2005.

Weil die Hindu-Nationalisten das Monopol auf die Lesarten der Vergangenheit beanspruchen und überwachen, wer indische Kultur wie benutzt, darstellt oder interpretiert, geraten Schriftsteller, Künstler, Intellektuelle und Wissenschaftler oder politische Aktivisten schnell auf vermintes Terrain. So vieles lässt sich definieren als Angriff auf "religiöse" Gefühle. Der in Bombay lebende Schriftsteller Kiran Nagarkar hat Erfahrung mit Zensur:

Nagarkar: "Die Unabhängigkeit liegt gerade mal 60 Jahre zurück. Und allmählich sollten wir selbst bestimmen, worüber wir schreiben. Aber manche Themen sind tabu, man fasst sie gar nicht erst ins Auge. Man kann nicht über Gandhi schreiben oder über Subash Chandra Bose, der mit Hitler Kontakt aufgenommen hat. Oder über Shivaj, einen Hindu-Anführer im 17. Jahrhundert, ein Kämpfer gegen die Muslime, eine der großen Abenteuergeschichten aller Zeiten. Leute, die keine Ahnung von ihm und seinen Leistungen haben, sehen ihn lediglich als Figur eines besiegten Territoriums. Irgendwann werden sich die Künstler bewußt werden und mit ihnen ein Teil der Bevölkerung, da sie ja nicht in einem Vakuum leben, dass sie als Krüppel existieren, dass ihnen die Luft ausgeht. Weil es immer nur heißt: über dies kannst du nicht schreiben und über das auch nicht. Das ist ein sehr gefährlicher Trend, der mir zutiefst bewusst ist. Auch wenn ich alles andere als ein Held bin: Ich will keine Kompromisse schließen. Punkt."

Noch immer beruft man sich in Indien gerne auf eine FBI-Studie, der zufolge die indischen Muslime nicht anfällig seien für den weltweiten religiösen Terrorismus. Zwar führen die Spuren der Bombenleger in den Vorortzügen von Bombay ganz offensichtlich nach Pakistan. Dennoch bestätigen und nähren solche Anschläge sowie die weltweite Stimmung gegen den Islam auch in Indien den Verdacht gegen Muslime. Sudhir Kakar erinnert daran …

Kakar: "... dass es in den Sog der Globalisierung gekommen ist. Es ist nicht mehr "unsere Muslime". Al Quaida hat den Djihad gegen Indien erklärt und für die Leute gilt: Muslime, Djihad, Al Quaida. Und da sind die Ängste natürlich etwas ganz anderes. Die sind dann die Muslime und das produziert mehr Angst."

Was bleibt, sind die Verwerfungen der indischen Gesellschaft: der rücksichtslose, immer wieder mörderische "Kommunalismus", die alltägliche Diskriminierung aufgrund von Armut und Religionszugehörigkeit, eine Zivilgesetzgebung zum Schutz der Multireligiosität, die religiöse Sitten zementiert - etwa im Scheidungsrecht oder im Erbrecht für Muslime, - statt allgemein geltende Gesetze für alle Bürgerinnen und Bürger hoch zu halten. Stärkung des säkularen Staates heißt darum die strikte Maxime für die Juristin Indira Jaising:

1940 in Bombay geboren, war die Bürgerrechtsaktivistin die erste Frau, die als Rechtsanwältin beim Obersten Gerichtshof zugelassen worden ist.

Jaising: "An der Gewalt gegen religiöse Minderheiten wird sich alles entscheiden. Das Thema wird uns nicht verlassen und zwingt uns die säkulare Textur des Landes zu debattieren. In ihrem Land würden sie vielleicht Multikulturalismus dazu sagen. Es geht um Demokratie und um Gleichheit und wenn wir keinen Weg finden, die Fragen mit der Mehrheit zu regeln und sicherzustellen, dass die Minderheiten als Gemeinschaften sicher leben können, dann werden wir in Zukunft viele Probleme haben."

Die Juristin wehrt sich gegen die zunehmende Aufrüstung religiöser Ansprüche – besonders von der Rechten (und im Gegenzug dann die entsprechenden Reaktionen der anderen). Sudhir Kakar hingegen, der Psychoanalytiker und Schriftsteller, glaubt an ein anderes Ethos und plädiert für einen Dritten Weg.

Kakar: "Das ist ein Hindu Ethos, das ist das Mehrheitsethos, aber es ist keineswegs exklusiv, alle anderen werden dazu beigetragen haben, damit es keine kulturellen Begegnungen nur von Verlierern und Gewinnern gibt. Es kommen also Anteile von beiden rein. Und vielleicht könnte das – ich bin nicht sehr optimistisch – aber vielleicht könnte das eine Zukunftsvision von Indien sein. Denn entscheidend ist, dass man auch nicht immer nur Unterschiede betonen kann. Man braucht auch einen Rahmen dafür, was uns vereint. Wenn man nur Diversität sieht, dann bricht ein Land auseinander."

Zitate/Lizenzen:

1& 5 Jhumpa Lahiri, Melancholie der Ankunft, aus dem Engl. von Barbara Heller, Karl Blessing Verlag, München, Taschenbuchausgabe 2002; Seite 39f und 59

2 Saadat Hassan Manto, Schwarze Notizen, aus dem Urdu von Christina Oesterheld, Suhrkamp, Fft./M 2006: Seite 117

3 Bapsi Sidhwa, Ice Candy Man, aus dem Engl. von Ditte König und Giovanni Bandini, DTV, München 2000, Seite 115

4 & 6 Kushwant Singh, Delhi, Roman aus dem ind. Engl. von Sabine Niemann und Martin Hielscher, Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 1995, Seite 387 und 414ff

7 Altaf Tyrewala, Kein Gott in Sicht, Roman aus dem Engl. von Karin Rausch, Suhrkamp, Fft./M, 2006, Seite 34f
Mahatma Gandhi im Jahr 1931
Mahatma Gandhi im Jahr 1931© AP Archiv
Sikhs in Indien
Sikhs in Indien© AP Archiv
Indira Gandhi, 1966
Indira Gandhi, 1966© AP Archiv