Autoren: Anja Schrum und Ernst-Ludwig von Aster
Sprecherin: Ilka Teichmüller
Regie: Beatrix Ackers
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Constanze Lehmann
Kein Kindlein steht im Walde
30:00 Minuten
Sofa-Sitzen statt Baum-Klettern: Weil die Kindheit sich von draußen nach drinnen verlagert hat, ist den Kindern die Natur fremd geworden. Dabei ist zum Beispiel der Wald ein vielfältiger Erlebnisraum, der Mädchen und Jungen stark macht.
"Wenn alle komplett sind, möchte ich euch noch mal herzlich begrüßen: Schön, dass ihr da seid. Jetzt werde ich euch zum Start begleiten."
16 Grundschulkinder stehen im Wald. Die Fünftklässler umringen Harald Fuchs.
"Auf dem Weg zum Start könnt ihr schon mal auf die Markierung des Weges achten, denn die wird Euch durch den Wald führen. Die ganze Rallye über gibt es eine Markierung mit Wimpeln."
Die Klasse zieht los. Mit dem Waldpädagogen an der Spitze geht es über einen breiten, von Buchen gesäumten Sandweg.
Harald Fuchs: "Wer entdeckt als erster eine Markierung?"
Kinder: "Da, hier."
Harald Fuchs: "Klappt schon, sehr gut."
Kinder: "Da, hier."
Harald Fuchs: "Klappt schon, sehr gut."
Seit 15 Jahren arbeitet Harald Fuchs an der Waldschule Bucher Forst, im Norden Berlins:
"Waldschule bedeutet, dass Schulklassen zu uns kommen mit denen wir sogenannte Wald-Tage im Wald verbringen. Wir wollen da vor allen Dingen die Begeisterung für die Natur wecken, stärken. Das was bei den Kindern im Grundschulalter natürlicherweise vorhanden ist, die Lust auf die Natur. Das wollen wir stärken und wollen wir fördern. Im Alltag kommen die Kinder nämlich gar nicht mehr so viel raus und haben kaum Gelegenheit, Natur zu erfahren und das soll bei uns gepusht werden."
Kindheit hat sich von draußen nach drinnen verlagert
Ob in Begleitung von Erwachsenen oder allein – offenbar sind immer weniger Kinder im Wald beziehungsweise in der Natur unterwegs.
"Also wir merken das schon, dass wir manchmal Schulklassen haben, da war noch kein Kind im Wald. Und das ist schon erstaunlich in der 4. oder 5. Klasse, dass noch niemand von den Kindern im Wald war. Aber das sind auch die Extreme."
Einmal pro Jahr veranstalten Fuchs und seine Kollegen von den anderen acht Berliner Waldschulen sogenannte "Waldrallyes". Das Besondere: Die Kinder streifen mehrere Stunden allein durch den Forst.
"Das ist ja was ganz Besonderes für die Kinder heute, dass sie wirklich mal ohne Erwachsenen-Begleitung im Wald unterwegs sein können."
Einen ganzen Vormittag laufen die Fünftklässler etliche Kilometer durch den Wald, absolvieren unterschiedliche Aufgaben. Harald Fuchs und seine Kollegen halten sich zurück. Ihr Ziel: Die Kinder sollen vor allem Spaß haben im Wald und eine schöne Zeit verbringen.
"Ich finde man kann beobachten, dass es inzwischen Klassen gibt, wo ein Großteil der Schüler und Schülerinnen erstmal mit Vorbehalten in den Wald kommen und dass es Skepsis und Ekel und vielleicht auch so ein bisschen Angst gibt vor dem Wald. Der Anteil an solchen Klassen wird schon größer in der letzten Zeit."
Strukturierte Lernwelten als pädagogische Lebenslüge?
"Raus mit Euch!" – fordert der Kinderarzt und Sachbuchautor Dr. Herbert Renz-Polster schon seit Jahren. Und wird nicht müde, die natürliche Umwelt als Entwicklungsraum für Heranwachsende zu preisen. Meist allerdings mit wenig Erfolg. "Ich bin ein einsamer Rufer", klagt der Kinderarzt:
"Der eigentliche Punkt ist, dass wir meinen, den Kindern etwas Besseres bieten zu können in strukturierten pädagogischen Welten. Und das sind meistens eben Kunstwelten, die wir für sie einrichten damit sie, ja, was lernen. Und das glaube ich wiederum, das ist unsere Lebenslüge. Das ist eine pädagogische Lebenslüge. Wir meinen, die Kinder wüchsen und werden stark und entwickeln sich, indem sie unsere guten klugen Ziele erfüllen. Aber Kinder brauchen mehr."
Und das sind für den Arzt vor allem Erfahrungen in der Natur. Und die bekommen Kinder heute immer weniger. Der Treck zieht von draußen nach drinnen, diagnostiziert Renz-Polster. Sofa-Sitzen statt Baum-Klettern. Smartphone-Welten statt Natur-Räume. Die Folgen sind unübersehbar. Denn ob körperliche oder kognitive Entwicklung – die Naturentfremdung fordert schon heute ihren gesundheitlichen Preis.
"Ich gehe davon aus, dass wir uns unheimlich viele Gedanken machen über die anderen Tiere. Was die so brauchen. Die darf man auch nicht mehr so halten, wie früher. Im Zoo zum Beispiel gibt es klare Vorstellungen, was die an Umwelt brauchen, damit es ihnen gut geht. Und diese Frage müssen wir einfach auch bei Kindern stellen."
Wissen geht verloren, Unbehagen wächst
"Wir hatten in den letzten Jahren viele Projekte zu laufen. Sie sehen da hinten ein Gewächshaus, das haben wir neu angelegt", sagt Hubert Koll.
Er sitzt in Köln auf einem wackeligen Holzstuhl hinter dem Institut für Biologiedidaktik. Und lässt den Blick über den Schulgarten schweifen. Er dient als Lernort für Kölner Schulkinder, aber auch für die künftigen Bio-Lehrer und –Lehrerinnen:
"Uns fällt schon auf nur wenige bringen Wissen mit, bringen Erfahrungen mit, mit Tieren umzugehen, mit Pflanzen umzugehen. Das ist nicht weit verbreitet, ganz ehrlich."
Ein Trend, den Koll seit Jahren beobachtet. Der Dozent arbeitet auch für den "Jugendreport Natur". Eine Untersuchung, die seit mehr als 20 Jahren in regelmäßigen Abständen das Wissen und die Erfahrungen von Kindern in puncto Natur unter die Lupe nimmt. Die letzte Befragung stammt aus dem Jahr 2016.
"Da haben wir in der letzten Untersuchung 1250 Schülerinnen und Schüler hier in ganz Nordrhein-Westfalen befragt, also sowohl in städtischen, in Übergangsgebieten als auch in ländlichen Gebieten und können das mit älteren Studien vergleichen und stellen da eindeutig fest, dass das Wissen über die Natur, das Interesse an der Natur und die Erfahrungen in der Natur deutlich abnehmen."
Die 12- bis 15-Jährigen mussten ganz unterschiedliche Fragen beantworten.
"Wir haben bei den Wissensfragen zum Beispiel gefragt: In welcher Himmelsrichtung geht die Sonne auf? In 2010 wussten noch 59 Prozent, dass die Sonne im Osten aufgeht, 2016 lag der entsprechende Prozentsatz nur noch bei 35 Prozent."
Die Wissenschaftler fragten auch zu Natur-Erfahrungen und -Erlebnissen:
"Wir haben auch Beispiele, was würden die Kinder gerne erleben. Was würde ich gerne machen, was würde ich gerne tun. Wir haben die Frage gestellt: 'Einen Käfer über die Hand krabbeln lassen.' Da haben wir Werte von 2003, von 2010, von 2016 und Jugendliche, die das positiv beantwortet haben, gingen zurück von 29 Prozent auf 20 Prozent. Im Gegenzug: Jugendliche und Kinder, die das völlig ablehnen stiegen von 34 Prozent auf 52 Prozent an. Das heißt, so direkter Kontakt zur Natur ist schon irgendwie so ein bisschen suspekt."
Die Natur-Entfremdung nimmt zu
Genauso die Erlebnisse, die mit Natur verbunden sind: Feuermachen etwa, am Bach spielen oder draußen übernachten. Für Koll ein klares Zeichen für eine zunehmende Natur-Entfremdung:
"Das heißt dieses Elementarerlebnis, mal über Nacht draußen zu sein, mal so ganz unmittelbar Elemente zu spüren, vielleicht auch zu übernachten, dass ein Zelt drüber ist, da haben viele heute Angst, die möchten das gar nicht mehr."
Im Berliner Forst hat das Team "Waldentdecker" die Station "Schnuppern und Fühlen" erreicht. Zwischen zwei Bäumen spannt eine Leine, daran hängen Baumwollsäckchen. Die Kinder sollen ertasten, was sich in den Beuteln befindet. Zwei Waldpädagogen assistieren.
Mädchen: "Ist das ein Stück Holz?"
Mann: "Nee, musst mal bis nach ganz oben fühlen, es ist ganz groß."
Mädchen: "Ah, ein Geweih."
Mann: "Von wem?"
Mädchen: "Widder?"
Junge: "Reh?"
Frau: "Ja, von einem Reh, das heißt dann eigentlich Gehörn."
Mann: "Nee, musst mal bis nach ganz oben fühlen, es ist ganz groß."
Mädchen: "Ah, ein Geweih."
Mann: "Von wem?"
Mädchen: "Widder?"
Junge: "Reh?"
Frau: "Ja, von einem Reh, das heißt dann eigentlich Gehörn."
Das Rehgehörn ist schnell ertastet, auch für die Säckchen mit den Schneckenhäusern und dem Baumpilz brauchen die Kinder nicht lange. Doch da ist noch ein Beutelchen - gefüllt mit kleinen, pieksigen Schalen.
Kinder: "Oh Gott, wie heißen die?"
Mann: "In welchem Wald sind wir denn gerade?"
Kinder: "Buchholz, Buchen."
Frau. "Und wie heißen die Früchte von der Buche?"
Kinder: "Oh Gott! Buch, Buch,... Buchenfrucht? (Lachen)"
Mann: "In welchem Wald sind wir denn gerade?"
Kinder: "Buchholz, Buchen."
Frau. "Und wie heißen die Früchte von der Buche?"
Kinder: "Oh Gott! Buch, Buch,... Buchenfrucht? (Lachen)"
Die beiden Waldpädagogen verraten schließlich die Lösung: Die kleinen Früchte mit den stacheligen Schalen heißen Bucheckern.
Zu Besuch im Leipziger Schulmuseum
"Auf der Etage geht es um den Wissenskosmos der Volksschule um 1900."
In Leipzig kommt Dr. Thomas Töpfer einen langen Gang entlang. Links hängt eine alte Schultafel, darunter stapeln sich Buchstabenkarten in Sütterlin. Auf der anderen Seite stehen helle Holzregale. Mit alten Schulbüchern. Auf dem Fußboden: Ein Hüpfspiel. Mit Illustrationen von Vögeln und Früchten, dazwischen Zahlen und Buchstaben.
"Das ist also für diesen Flur entwickelt worden und bietet die Möglichkeit, sich durch den Wissenskosmos eines sechs-, sieben-, acht- bis zehnjährigen Kindes vor 100 Jahren ungefähr zu spielen."
Der Wissenskosmos der Kinder und seine Vermittlung durch die Schule. Das ist das große Thema des Leipziger Schulmuseums. Eine Zeitreise auch durch die Naturbildung. Über hunderte von Jahren.
"Das ist das erste Schulbuch in Deutschland, für Elementar- also Dorfschulen, das sich mit den natürlichen Dingen beschäftigt. Und zwar ist das ein Schulbuch aus Gotha aus dem Jahre 1657. Der berühmte "Kurze Unterricht von natürlichen Dingen und etlichen nützlichen Wissenschaften". Das ist eines der wichtigsten Dokumente der deutschen, ich würde sogar sagen, der europäischen Bildungsgeschichte."
Der Bildungshistoriker blättert, fährt mit dem Zeigefinger die alten Buchstaben entlang:
"Zum Beispiel hier über die Kräuter: Von den Kräutern dienen etliche den Menschen zur Speise. Etliche zur Arznei. Etliche zu deren keines."
Abbildungen fehlen in dem Schulbuch. Das Anschauungsmaterial holten sich die Schüler aus der Natur.
"Man ist erstens dann auch mit den Kindern in Wald und Flur gegangen, und hat das gezeigt. Und man hatte in den Schulen auch Objekte, also Herbarien, getrocknete Pflanzensammlungen."
Die Natur, sie galt damals als gottgeschaffen. So lernten es die Kinder. Der Mensch als Teil des großen Ganzen. Die Umwelt sichtbar, nutzbar, aber nur begrenzt verstehbar:
"Man war Teil davon. Und man nahm die Natur auch nicht als etwas wahr, was man mit Andacht oder Schutzbedürfnis betrachtete, so wie heute. Wir gehen in die Natur um uns zu erholen, um Freude zu haben, aber auch um etwas zu schützen, zu bewahren. Sondern man nahm Natur sehr viel stärker auch als Bedrohung wahr, auch als etwas wahr, was einem gefährlich werden kann, was man entsprechend auch kontrollieren muss. Und was man nutzen muss, um nicht zu verhungern."
In der Natur die Sinne schärfen und die Motorik trainieren
Im Bucher Forst ist das Team "Waldentdecker" seit gut anderthalb Stunden unterwegs. Der Wimpel-markierte Waldweg führt die Kinder zu ihrer nächsten Station – einem Suchpfad. Eine Waldpädagogin erklärt die Aufgabe:
Pädagogin: "Wenn ihr gleich den Suchpfad beginnt, schaut ihr sowohl rechts wie auch links, was da zu finden ist. Und zwar haben wir zehn Gegenstände versteckt, die was mit Tieren zu tun haben."
Kinder: "Kot!"
Pädagogin: "Und ihr sollt diese zehn Gegenstände erkennen, ihr könnt sie aufschreiben oder euch merken."
Kinder: "Kot!"
Pädagogin: "Und ihr sollt diese zehn Gegenstände erkennen, ihr könnt sie aufschreiben oder euch merken."
Einzige Bedingung: Die Kinder dürfen auf dem gut 15 Meter langen Wegabschnitt nicht vor und zurück laufen.
Kinder: "Geweih, Geweih, Kopf. Und da hinten ist ein kleiner Hase – aus Stein."
Einige Gegenstände sind leicht erkennbar platziert. Der Gipsabdruck einer Tierspur zum Beispiel. Eine zwischen den Ästen baumelnde Feder dagegen ist nur schwer auszumachen.
"Es geht vor allem um eine aufmerksame Wahrnehmung und ein Sinne schärfen – aber auch schauen, was gehört zu Wildtieren alles. Es sind ja sehr unterschiedliche Gegenstände von Schlangenhaut bis zu Federn bis – was selten gesehen wird – ein abgeknabberter Zapfen vom Eichhörnchen. Vor allem geht es um bewusstes Wahrnehmen."
Das alte Wespennest, gleich vorne am Start, übersehen die Kinder. Vielleicht auch, weil sie gar nicht wissen, was das ist. Am Ende hat das Team "Waldentdecker" sieben von zehn Gegenständen erspäht.
Tageslichtmangel und Kurzsichtigkeit hängen zusammen
"Kinder werden rund um den Globus in allen zivilisierten Ländern eigentlich immer kurzsichtiger. Und man kann also wirklich prophylaktisch sagen, wird heute auch empfohlen, dass Kinder die viel draußen sind, die können immerhin ihrer Kurzsichtigkeit oder der Entwicklung der Kurzsichtigkeit ein Schnippchen schlagen", diagnostiziert der Kinderarzt Herbert Renz-Polster.
Den Zusammenhang von Kurzsichtigkeit und kindlichem Lebenswandel haben australische Wissenschaftler nachgewiesen. Das natürliche Tageslicht verhindert offenbar ein zu starkes Längenwachstum des Augapfels. Das ist hauptsächlich für die Kurzsichtigkeit verantwortlich.
"Kinder sind rein statistisch betrachtet, weniger draußen als früher. Sie haben weniger informelle, also nicht vorgegebene Zeiten überhaupt, um frei darüber zu entscheiden. Und diese Zeit verbringen sie eigentlich relativ wenig draußen."
Die drastischen Folgen zeigen sich in hoch-technologisierten Megastädten wie Singapur oder Hongkong. Dort findet ein Großteil der Kindheit in Innenräumen statt. Im Schnitt sind die Kleinen pro Tag weniger als eine halbe Stunde draußen. Heute sind dort 90 Prozent der Heranwachsenden kurzsichtig. Drinnen hocken, statt draußen toben. Diesen Trend beobachten Wissenschaftler seit Jahren auch in Deutschland. Und attestieren Bewegungsmangel. Lediglich rund 22 Prozent der Mädchen und knapp 30 Prozent der Jungen, so die aktuellen Zahlen, bewegen sich aktiv eine Stunde pro Tag.
Das Immunsystem gerät ohne Natur durcheinander
Für Renz-Polster ein weiteres Indiz, dass die moderne Welt für die kindliche Entwicklung nicht nur Chancen, sondern auch mannigfaltige Hindernisse bereithält. Das Thema beschäftigt ihn seit fast zwei Jahrzehnten. Alles begann mit seiner Doktorarbeit zum Thema Allergien bei Kindern. Die chronische Unterforderung des kindlichen Immunsystems durch eine immer hygienischere, keimärmere Welt ist eine Ursache für den Allergie-Anstieg in den Industrienationen.
"Wenn man es genau betrachtet dann kommen die Probleme eigentlich daher, dass sie eben in einer Welt gelandet sind, die nicht gut zu dem passt, auf was sie vorbereitet sind. Und das scheint das Immunsystem durcheinanderzubringen das Immunsystem scheint für seine Reifung irgendeine wirkende, wilde Natur vorauszusetzen, die es nicht mehr gibt."
Die Zeiten als Jäger und Sammler, Bauer und Viehzüchter haben evolutionsbiologisch in uns tiefe Spuren hinterlassen. Das vergessene Vermächtnis der Natur - diesen Gedanken überträgt Renz-Polster auch auf die kindliche Entwicklung. Grundtenor: Für das motorische wie auch kognitive Wachsen brauchen Kinder Freiräume, die sie selbst entdecken und erobern können. Freiräume, die sie in der Natur en masse finden.
"Das ist der ideale Entwicklungsraum, weil die Kinder sich ihre Herausforderungen und ihre Aufgaben selber suchen können. Und das ist in der kindlichen Entwicklung in allen Kompetenzen extrem wichtig, weil, Kinder zieht es dann immer zu den Dingen, die sie gerade so schaffen können. Das bedeutet, wenn ein Baumstamm umfällt oder so oder so, dann klettere ich da hoch, so weit wie es für mich richtig ist, wie ich mich herausgefordert fühle. Und dann springe ich runter. Lerntheoretisch bedeutet das, dass Kinder eigentlich wenn sie sich selber ihre Ziele und Herausforderungen setzen, dass sie dann in einem Bereich landen in dem sie am meisten lernen können. Also dort wo es fürs Kind kribbelt, ist gleichzeitig auch sein Lernbereich."
Über die Natur als idealen Entwicklungsraum hat Renz-Polster zusammen mit dem Göttinger Hirnforscher und Neurobiologen Gerad Hüther ein Buch geschrieben. Titel: "Wie Kinder heute wachsen". Ein Plädoyer für eine natur-nähere Erziehung in der Industriegesellschaft. Neurologisch und evolutionsbiologisch begründet. "Der Evoluzzer"- nennt ihn seitdem manchmal die Presse. Weil er immer wieder betont, dass Heranwachsende für ihre Entfaltung weniger technische, künstliche denn natürliche Reize benötigen.
Ängste der Eltern bremsen Neugier der Kinder aus
"Ich zeig dir mal, was der für eine Besonderheit hat. Guck mal, Junge: Stachel. Die sind auch an den großen Ästen dran, da musst du aufpassen."
Robert Welzel zeigt dem Viertklässler die langen Dornen der Robinie. Der Junge nickt und klettert weiter. Seine Lehrerin mahnt:
"Aber Taylor, du denkst dran, dass du auch wieder runter musst. Aber probier mal aus – so, ich sag jetzt gar nichts mehr. Sie kriegen das hin!"
Der Erzieher lässt den Jungen allein weiterklettern in der "Wilden Welt am Spieroweg" in Berlin-Spandau. Einer von drei "Naturerfahrungsräumen" der Hauptstadt. Ein Dickicht aus Bäumen, Büschen, Sträuchern, durchzogen von Trampelpfaden. Welzel deutet auf ein paar Stämme, an denen dicke Äste lehnen:
"Das ist der Höhlenwald hier, hier holen sich die Kinder ihre Stöcker und dann wird hier gebaut. Das sind meist Anlehn-Höhlen wie diese hier oder dass sie richtig Konstruktionen bauen mit Flechtwerk und allem Drum und Dran."
Höhlenbauen und Versteck spielen, ohne Vorgaben und Aufsicht. Bei der Begrüßung haben die Kinder heute gefragt: "Habt ihr Kletterbäume? Und: Wie hoch dürfen wir klettern?"
"Viele Kinder wissen, wenn man in so einem Ding drin ist, wo Bäume sind, dass man da nicht raufklettern darf, es ist verboten. Und die Grünflächenämter machen das allein schon aus Versicherungsschutz, dass sie im unteren Bereich die Äste alle komplett wegnehmen – müssen, weil ansonsten, wenn ein Kind da raufgeht, hat man ja den Kletter-Anreiz geschaffen."
So hoch auf den Baum klettern, wie man will
Robert Welzel hat den Kindern erklärt, dass hier am Spieroweg jeder Baum ein Kletterbaum ist. Und dass man so hoch klettern darf, wie man will.
Nur alleine wieder runterkommen müssen sie. Das genau macht den Reiz eines Naturerfahrungsraums aus, sagt der Erzieher:
"Wenn sie die Möglichkeit haben, etwas zu machen, was ihnen sonst verboten wird. Was man sonst nirgendwo machen kann. Wenn sie etwas machen 'dürfen', dürfen – was sie sich sonst nicht getraut haben und zwar ohne dass jemand mit Druck rangeht, ohne dass jemand sagt: Da muss du jetzt aber hoch, hey!"
Ein Trampelpfad führt aus dem Dickicht heraus, auf einen freien Platz. Hier ist der Startpunkt für Eltern, Erzieher und Kinder. Die Erwachsenen bleiben, die Kinder erkunden die Umgebung, entfernen sich immer weiter. Verschwinden dann im Dickicht.
"Und die Erwachsenen gucken: Oh Gott, wo sind die jetzt?"
Die Ängste der Erwachsenen sind häufig das, was die Kinder am meisten einschränkt in ihrer Naturerfahrung, sagt Welzel. Und erzählt von einer Mutter, die ihre Acht- und Neunjährigen hier nicht alleine spielen lassen mochte. Aus Angst vor "giftigen Dornenpflanzen":
"Und dann zeigte sie mir die giftigen Dornpflanzen – giftige Dornpflanzen – Brombeeren. Brombeeren am Strauch kannte sie so nicht. Es ist eine Trainingsfläche für Erwachsene und für Kinder – auf jeden Fall. Wahrscheinlich mehr für die Erwachsenen."
Der "Bambi-Effekt" entfaltet seine Wirkung
Hubert Koll sitzt im Schulgarten des Biologie-Instituts der Universität Köln. Dutzende Schulklassen kommen jedes Jahr hierher. Wenn Koll an das Umfeld denkt in dem viele der Kinder heute aufwachsen, graust es ihn:
"Wenn man jetzt in die Neubaugebiete geht, rund um Köln, oder auch in den ländlichen Bereich: Es wird im Prinzip der letzte Quadratmeter verplant. Es sind keine Freiflächen mehr da. Die Entfernungen zu diesen Freiflächen werden immer größer und man glaubt, mit einem Spielplatz, das sind ja meist irgendwelche Rest-Ecken, die von der Bebauung übrigbleiben, auf der drei Spielgeräte aufgestellt werden, man glaubt, damit ist es getan, damit ist es nicht getan."
Und wenn es dann mal in die Natur geht, am Wochenende etwa oder in den Ferien, dann entfaltet der sogenannte "Bambi-Effekt" seine Wirkung. Bambi-Effekt, damit meint Koll die Wahrnehmung der Natur als bedrohter, schützenswerter Raum, in dem der Mensch nur als Störenfried vorkommt.
"Das Problem an diesem Bambi-Effekt ist, dass Kinder dadurch abgehalten werden, die Natur zu erleben. Sobald sie einen Ast abbrechen, sobald zum Beispiel ein Hase aufgescheucht wird, kommt sofort das schlechte Gewissen: Ich darf die Natur nicht stören! Das ist so tief verankert. Im Sinne von Naturerlebnis ist es sehr kontraproduktiv, wenn am Ende die Kinder ein schlechtes Gewissen haben."
Das belegt der "Jugendreport Natur", den Koll betreut. In der Untersuchung wurde auch die Nutzung digitaler Medien abgefragt. Natürlich sind Smartphone, Tablet und Laptop Zeitfresser und Langeweile-Killer, trotzdem will Koll sie nicht verdammen:
"Ich finde, wir sollten aufhören, die digitalen Medien immer so zu verteufeln. Wir alle nutzen sie. Wir sollten lieber drüber nachdenken, wie kann ich digitale Medien auch nutzen, um die Kinder nach draußen zu bringen. Kann es nicht auch ein Vehikel sein, um über die digitalen Medien Naturerfahrungen zu ermöglichen?"
Eine App lockt raus in die Natur
Im Berliner Naturkundemuseum greift Ulrike Sturm zu ihrem Smartphone, verlässt ihr Büro, öffnet eine schwere Tür, eilt einen hohen, dunklen Flur entlang.
Seit mehr als 200 Jahren bemühen sich Wissenschaftler hier, die Bevölkerung für die Vielfalt der Natur zu begeistern. Ob Dinosaurier oder Darwin-Aufzeichnungen – tausende Exponate aus aller Welt locken ins Museum. Ulrike Sturm versucht seit vier Jahren die Menschen von hier aus auf Entdeckungsreise zu lotsen, nach draußen, in die Natur:
"Die Leute kommen zu uns, um etwas über Natur zu erfahren. Und wir möchten ihnen gerne etwas geben, wo sie Natur direkt hier erleben können."
Biene Maja zum Kuscheln, Gruselmeldungen über Killerpflanzen – irgendwo zwischen Bambi-Welt und Gefahrenraum entwickelt sich heute oft das Naturverständnis der Heranwachsenden. Künstliche Bilder und Räume dominieren immer mehr die Wahrnehmung. Oft vermittelt über digitale Medien. Mittlerweile ist die erste Smartphone-Generation Mitte 20. Das Naturwissen und die -erfahrung erodieren ungebremst.
Darum versuchen die Museumsmacher nun die jungen Erwachsenen nach draußen zu locken. Natürlich per App. "Naturblick" heißt die Anwendung, die sie dafür entwickelt haben:
"Wir wollen über die jungen Erwachsenen, wir meinen damit auch Eltern, die dann diese App auch nutzen können, um mit ihren Kindern zusammen die Natur in der Stadt entdecken."
Das Naturkundemuseum verfügt über unzählige botanische Sammlungen und ein Tierstimmenarchiv. All das haben Sturm und ihre Kollegen digital verknüpft und mit Bild- und Tonerkennungssoftware verbunden. Um die App vorzuführen, steuert die Wissenschaftlerin einen kleinen Garten hinter dem Museumsgebäude an, zieht ihr Smartphone aus der Tasche:
"Gehen wir mal, suchen uns eine Pflanze aus und dann knie ich mich mal näher ran und mache ein Foto und kann jetzt auch noch mal reinzoomen und kann einen Ausschnitt auswählen. Und kann dann mit "Ausschnitt bestimmen" diesen Ausschnitt zu Bestimmung schicken."
Per Handy wird das Bild zum Server im Naturkundemuseum übertragen, dort mit den Datenbanken verglichen - und das Ergebnis zurückgeschickt:
"So, jetzt kommt das Ergebnis: Und hier können wir sehen, auf den grünen Punkten, welche Art das ist, und es sagt uns: Es ist ein Spitzahorn."
Noch ein Fingerdruck auf dem Smartphone, dann wird der Fundort in einer virtuellen Stadtkarte abgespeichert. Mit Breiten- und Längengrad. Mehr als 120.000 Mal wurde die kostenlose App bisher heruntergeladen. Laufend wird sie weiterentwickelt. Die Nutzer-Gemeinde verlangt danach:
"Und das ist für uns dann auch eine große Motivation, dem dann nachzukommen. Und dieses Interesse einzufangen."
Unter dem Mikroskop verschwindet das große Ganze
Im Leipziger Schulmuseum beugt sich Thomas Töpfer über einen Büchertisch. Lehrwerke aus den letzten 100 Jahren.
"In der Nachkriegszeit vollzieht sich dann – wenn man jetzt noch mal auf die DDR schaut – ein Wandel, von der Naturlehre, also einem sehr vielfältigen Wissensbereich, findet endgültig das statt, was man vielleicht als 'Verwissenschaftlichung' beschreiben könnte: also eine sehr viel stärkere Ausrichtung an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Also die ersten Biologiebücher, hier im Falle der DDR aus den 1950er-Jahren, heißt eben noch Biologie und Landwirtschaft; es wird also auch deutlich, wo hier der Fokus liegt."
Biologie, Physik, Chemie, Geographie – in der Nachkriegszeit haben die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen Konjunktur.
"Und wenn man dann schon die nächste Stufe sich anschaut, tauchen dann neben den Tieren und Pflanzen, Anfang der 60er-Jahre, wirbellose Tiere auf. Tiere, die nur unter dem Mikroskop zu erkennen sind. Bis hin zu Schulbüchern, eher am Ende der DDR, also hier in den 70er-Jahren, die dann auch schon von der Mikrobiologie beeinflusst sind, von Elementen, Bakterien und so weiter."
In Ost wie in West – der Blick gilt immer mehr dem Detail, der Zelle, dem Erbgut, dem Atom. Der Mikrokosmos, die kleinsten Teile, rücken immer mehr in den Mittelpunkt. Das große Ganze aber gerät allzu oft aus dem Blick. Die Verwissenschaftlichung der Natur – sie reicht heute bis in den Kindergarten, kritisiert Herbert Renz-Polster.
"Wo sie dann als kleine Forscher schon mal im Kindergarten sozusagen üben dürfen und die Hoffnung war, dann werden sie große Forscher. Also fangen früh an mit Naturwissenschaften und schönen Experimenten. Dann sind die später am oberen Ende der Wertschöpfungskette und machen "wunderbare Dinge".
Erst langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass die Frühförderung vor allem das elterliche Gewissen beruhigt, den Nachwuchs aber nicht unbedingt weiterbringt.
"Das hat man auch irgendwann gemerkt dass zum Beispiel diese Hypothese der frühen Lernfenster – das heißt, je früher ich mit bestimmten Dinge beginne, desto aufnahmefähiger wären die Kinder - dass das gar nicht stimmt. Es ist nicht so, dass Kinder, wenn sie früher beginnen mit den Zahlen zum Beispiel sich zu beschäftigen, dass sie bessere Mathematiker würden."
Natur bietet Freiräume und Herausforderungen
Wenn er das in seinen Vorträgen anspricht, blicke er oft in staunende Gesichter, sagt Renz-Polster, manchmal auch in ungläubige. Dann erzählt er vom "Unschärfedilemma". Das bedeutet schlicht, dass niemand weiß, wie die Zukunft in 20 Jahren aussehen wird, wenn die Kinder ins Berufseben eintreten. Eines aber steht für den Wissenschaftler fest:
"Also ich sagt den Eltern einfach: Leute macht euch nicht in die Windel, weil es kommt sowieso anders. Die Zukunft ist ungewiss. Kinder müssen vorbereitet sein auf Neuland. Und das schafft man nicht, indem man einen engen Kanon von Kompetenzen oder Wissensinhalten den Kindern präsentiert."
Sondern indem man Freiräume schafft, in denen sich Kinder eigenständig entwickeln können:
"Eltern verstehen dann schon, eigentlich, was brauchen die, wenn die im Neuland sind? Vielleicht zunächst einmal einfach Selbstbewusstsein, Mut, Neugier, wache Augen, Begeisterungsfähigkeit. Das sind doch die Dinge die nachher den Kindern ermöglichen, eigentlich mit allem klarzukommen."
Und die Natur bietet dafür einen über Jahrtausende erprobten Entwicklungsraum. Den Entwicklungs-Spielraum aber müssen die Eltern heute bereitstellen:
"Ich hoffe nur, dass Eltern einfach verstehen, es ist eigentlich alles da. Und Kinder haben das genutzt. Das ist ja wirklich, wie wäre es sonst diese ganze Generation 70er Jahre, 60er Jahre, Anfang 80er Jahre, dort draußen vergammelt regelrecht im pädagogischen Sinne. Selbst gesetztes Ziel: Abends wieder heim zum Abendessen. Wie haben es die eigentlich geschafft, groß zu werden?"
Erstsendedatum: 23. Oktober 2018