Aufzeichnungen einer Verfolgten

Rezensiert von Klaus Bölling · 21.06.2009
Im "Pariser Tagebuch 1942-1944" beschreibt Hélène Berr, eine jüdische Studentin, die im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordet wurde, ihre Erlebnisse unter der deutschen Besatzung in Paris.
Man legt dieses Tagebuch einer höheren Tochter aus einer wohlhabenden Pariser Familie jüdischer Herkunft aus der Hand und ist unfähig, das Gefühl einer großen Bedrückung, einer großen Traurigkeit abzuwehren. Schon nach wenigen Seiten dieser Aufzeichnungen der Hélène Berr zwischen den Jahren 1942 und 1944 wird der Leser die 20-jährige Jüdin nicht nur wegen der für ihre Jahre ganz ungewöhnlichen Bildung, wegen ihrer Sprachkraft, wegen einer ungewöhnlichen Sensibilität nur noch bewundern, und mindestens so sehr wegen ihres Mutes, in Paris unter der deutschen Besatzungsmacht. Der Leser wird Zeuge ihres geistigen Adels. Das Tagebuch, das sie ihrem in den Reihen De Gaulles gegen die Deutschen kämpfenden Verlobten hinterlassen hat, ist auf ganz andere Weise so bewegend, ja aufwühlend, wie das der Anne Frank.

Als Hélène Berrs Tagebuch im vergangenen Jahr in Frankreich bekannt wurde, fand es ein mächtiges Echo - nicht nur beim gebildeten Publikum. Simone Veil, die Grande Dame der französischen Politik nannte es ein "historisches Dokument ersten Ranges". Das ist es und zugleich ein "document humain". Die Studentin hätte der Verfolgung der Juden in Paris und der Deportierung entgehen können. Sie bleibt und hilft den im Sammellager Drancy zusammengepferchten Juden, die wenig später in die Todeslager verbracht werden. Hélène Berr fragt sich:

"Werde ich mich eines Tages gegen mein Schicksal auflehnen? Nicht Fatalismus lässt es mich ertragen, sondern ein unbestimmtes Gefühl, daß jede neue Prüfung einen Sinn hat, daß sie für mich ausersehen ist und daß ich geläuterter sein werde, würdiger gegenüber meinem Gewissen und wahrscheinlich auch gegenüber Gott als vorher"."

Als die Gestapo, das sind doch wohl Deutsche, unterstützt von willfähriger französischer Polizei, die Jagd auf die Pariser Juden organisiert, vermerkt Hélène – und unsereins zeigt sich erstaunt: "Wieder ein bisschen Deutsch geübt."

Im Bekannten- und Freundeskreis werden an jedem Tag jüdische Frauen und Männer, meist in den frühen Morgenstunden, verhaftet und nach Drancy verschleppt - auch ihr Vater. Wiederum fragt Hélène:

""Wie viele Seelen, die unendlich wertvoll waren, Begabungen besaßen, vor denen sich andere Menschen hätten verneigen müssen, sind auf diese Weise zermalmt, zerbrochen worden durch germanische Rohheit. Was für ein Triumph des Bösen über das Gute, des Hässlichen über das Schöne, der Gewalt über die Harmonie, der Materie über den Geist. Alle verschlungen von diesem Räderwerk des Bösen."

Dieses Räderwerk möchten die Handlanger von Himmler und Eichmann vor der Pariser Öffentlichkeit verstecken. Vorübergehend ist es ihnen gelungen. Als vor einiger Zeit in Paris Photos aus der Zeit der Besatzung gezeigt wurden, es war im Sommer 1942, konnte sich, zumal jungen Franzosen, der Eindruck mitteilen, es sei doch trotz der vielen deutschen Soldaten ein friedlicher Sommer gewesen. Überall heitere Menschen auf den Straßen der Hauptstadt. Das war die lügnerische Kraft der Bilder. Als Hélènes Vater verhaftet wird, weil er den Judenstern nicht korrekt befestigt hat, war so wenig ein Photograph zugegen, wie bei den von der Polizei gedeckten Plünderungen der Wohnungen jüdischer Pariser. Die mussten ihre Wertsachen selber verpacken. Das Raubgut wurde nach Deutschland geschickt. Hélène Berr, die immer neue Schreckensnachrichten erfährt, schreibt Anfang 1942:

"Jetzt, das ist neu, wenn ich einen Deutschen oder eine Deutsche sehe, steigt, wie ich zu meiner Verblüffung gemerkt habe, plötzlich Wut in mir auf, ich könnte sie schlagen. Sie sind für mich zu denjenigen geworden, die das Böse tun, dem ich in jeder Minute begegne. Früher habe ich sie nicht so gesehen, ich sah sie als blinde Automaten, abgestumpft und beschränkt, aber nicht verantwortlich für ihr Handeln, vielleicht hatte ich Recht. Kenn ich den Hass?"

Nein, diese Frau, diese hochbegabte Studentin an der Sorbonne, war des Hasses nicht fähig. Sie hat das Leiden der Juden in Paris, des eigenen Vaters, der Familie und aller ihrer jüdischen Freunde, mit radikaler Wahrhaftigkeit geschildert. Wenige Tage bevor die englischen Truppen das KZ Bergen-Belsen erreichten, ist sie Opfer des Rassenwahns geworden.

Hélène Berr: Pariser Tagebuch 1942-1944
Übersetzt aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Carl Hanser Verlag, München 2009
320 Seiten, 21,50 Euro