Auge um Auge, Zahn um Zahn?

Von Susanne Billig und Petra Geist · 13.09.2012
Das Strafrecht ist das schärfste Mittel, das die Gesellschaft einsetzt, um Normen und Regeln zu verteidigen. Seine zentrale Aufgabe ist der Umgang mit Sanktionen. Doch auch die Wiedergutmachung zu Gunsten des Opfers hat im Recht und im Gerechtigkeitsempfinden eine lange Tradition.
Formen der sogenannten 'wiederherstellenden Gerechtigkeit' erleben seit einigen Jahren inner- und außerhalb des Strafrechts eine Renaissance. In Mediationsverfahren setzen sich Täter und Opfer an einen Tisch, um über die Tat, das begangene Unrecht und Möglichkeiten der Entschädigung zu sprechen. In einigen außereuropäischen Ländern werden inzwischen auch traumatisierte Zeugen und Familienangehörige beider Parteien aktiv eingebunden.

Was sind die Möglichkeiten von wiedergutmachender Gerechtigkeit, wo liegen ihre Grenzen? Handelt es sich hier wirklich um erfahrbare Gerechtigkeit für Opfer und Täter? Und inwieweit lässt sich dieser Ansatz auch auf Schwerstverbrechen ausweiten?

Auge um Auge, Zahn um Zahn - Opfer, Täter und die Gerechtigkeit vor Gericht
Von Susanne Billig und Petra Geist

"Ich habe jetzt kürzlich einen Fall vor meiner eigenen Kammer erlebt, da ging es um einen Fall, bei dem ein völlig fremder Täter einem Opfer in einer Diskothek einen Schnitt in das Gesicht versetzt hatte, mit einer entstellenden Narbe. Und im Prozess wurde deutlich: Das Opfer wollte keinen Schadenersatz, sondern das Opfer fragte nach dem Warum. Und wollte wissen, warum er hier verletzt worden ist - und er würde gerne mit dem Täter darüber reden."

Menschen vor Gericht - ein Opfer, ein Täter, Anwältinnen und Anwälte, ein Richter. Jemand wurde verletzt, eine Anzeige wurde erstattet, der mutmaßliche Täter ermittelt. Was geschieht nun? Amr Sarhan ist Richter am Landgericht Köln.

"Dieses Opfer wird nun zu einer Strafverhandlung geladen, um dort auszusagen und wird vermutlich denken, es gehe in diesem Strafverfahren im Wesentlichen um seine Verletzung, es gehe also darum, seine Ansprüche auf Schadenersatz, auf Genugtuung und auf Bestrafung des Täters durchzusetzen."

Doch in dieser Erwartung wird das Opfer vor Gericht enttäuscht. Denn in dem Strafverfahren geht es nicht um seine Verletzung. Lediglich als Zeuge ist der Geschädigte geladen - als Untersuchungsobjekt, damit das Gericht die Wahrheit ermitteln und den staatlichen Strafanspruch klären kann.

"Der Verletzte wird vor Gericht als Zeuge angehört, vielleicht wird dann auch noch die Narbe in Augenschein genommen - und dann kann er im Grunde, wenn er nicht vielleicht ausnahmsweise als Nebenkläger auftritt, nach Hause gehen."

Von "Trennungsdogmatik" spricht hier die Strafrechtswissenschaft, damit ist gemeint: Im Strafrecht geht es nicht um die Verletzung des Opfers, sondern um eine übergeordnete Verletzung: die Auflehnung des Täters gegen die Gemeinschaftsordnung und die Verletzung des objektiven Rechts.

"Die reale Opferverletzung ist davon getrennt. Sie ist sozusagen verlagert in ein anderes Rechtsgebiet, nämlich in das bürgerliche Deliktsrecht, das wir heute im Zivilverfahren kennen. Ich finde den Begriff Dogmatik in diesem Zusammenhang passend. Denn diese Trennung ist ja nicht etwas Naturgegebenes. Sie entspricht nicht dem natürlichen Empfinden der Menschen, sondern sie ist im Grunde ein reiner Lehrsatz - eine Meinung, die man in der Strafrechtswissenschaft kaum hinterfragt."

Nicht das Opfer setzt den Strafanspruch durch, sondern der Staat, dessen Anwaltschaft öffentliche Klage erhebt. Deshalb geht es im Strafverfahren auch nicht um die Interessen des Opfers, nicht um Schadenersatz, Genugtuung oder Versöhnung - sondern es geht um die Klärung des staatlichen Strafanspruchs, um die Frage von Schuld und Sanktionen. Ob ein Verfahren eingeleitet wird, ob es eingestellt wird - das entscheiden allein das Gericht und die Staatsanwaltschaft. Die Meinung, die Gefühle, die Bedürfnisse des Opfers zählen nicht. Warum ist das so?

"Wenn man mal unterstellte, die Tat richtete sich nur gegen das Opfer, also wenn wir mal so tun, als sei ein Rechtsverstoß lediglich ein Verstoß gegen das Opfer, dann hätte das zur Konsequenz, dass die Strafverfolgung in den Händen des Opfers liegen müsste."

Doch wie sähe ein Rechtssystem aus, in dem Anklage, Strafe und Rache in den Händen der Opfer lägen? Würde der Täter um so schwerer bestraft, je verhasster er dem Opfer wäre? Würden Familienfehden Generation um Generation weitergetragen, wie bei Romeo und Julia, und noch die Urenkel müssten für längst vergangenes Unrecht bezahlen? Könnten Personen mit Macht und Einfluss im Gerichtssaal einen anderen Druck ausüben als kleine Leute?

"In einem Rechts- und Verfassungsstaat verbietet es sich, das einschneidende Schwert, die Strafe, in die Hände des Opfers zu legen. Die Verlagerung der Strafgewalt auf den Staat ist so gesehen eine zivilisatorische Errungenschaft, bietet nämlich die Gewähr für eine maßvolle und Willkür- befreite Strafjustiz."

Doch gibt es Mittelwege? Sind Möglichkeiten denkbar, Geschädigte in das juristische Verfahren einzubinden, ohne den Täter ihrem Gutdünken auszusetzen?

Wenn sich die Justiz solchen Alternativen zunehmend öffnet, spielen zwei Gründe dafür eine Rolle. Die Opfer von Straftaten in ihren Gefühlen ernster zu nehmen, ist nur einer davon. Der andere lautet schlicht: Die Strafjustiz ertrinkt in Prozessen. Während das Zivilrecht etwa bei Nachbarschaftsstreitigkeiten oder Beleidigungen die vielfältige Einbindung von Ombudsleuten und Schiedsstellen kennt, landen im Strafrecht viele Konflikte vor Gericht, die möglicherweise auch auf andere Weise gelöst werden könnten.

"Hier in Mainz gibt es Täter-Opfer-Ausgleich oder Mediation in Strafsachen seit 1997..."

Andreas Prause arbeitet bei der Beratungsstelle "Dialog Mainz - Opfer- und Täterhilfe Rheinhessen".

"... anfänglich mit weniger Fällen, mittlerweile haben wir uns bei im Jahr so zwischen sechshundertfünfzig und siebenhundert Vermittlungsverfahren eingependelt, das heißt für jeden Kollegen hier ungefähr zweihundert bis zweihundertzwanzig Vermittlungen im Jahr."

"Restorative justice", "wiedergutmachende Gerechtigkeit" heißt die rechtsphilosophische Grundidee solcher Mediationsverfahren. Ihr gegenüber steht die "retributive justice", die ausgleichende oder strafende Gerechtigkeit. Die wiedergutmachende Gerechtigkeit sieht ihr Ziel darin, die sozialen Beziehungen zwischen den Konfliktparteien wieder herzustellen. Ihre Grundannahme lautet: Eine Straftat verletzt in erster Linie einen Menschen - und nicht ein Gesetz. Ein Täter, dem dies schmerzhaft bewusst wird, entwickelt die Bereitschaft, mit dem Opfer eine Wiedergutmachung auszuhandeln - vielleicht eine Entschuldigung, vielleicht ein Schmerzensgeld.

"Mit "restorative justice" ist nicht gemeint, dass wir unser ganzes Strafrechtssystem sozusagen zur Disposition stellen."

Frank Früchtel ist Professor für Ethik, Theorie und Methoden der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Potsdam - und gehört zu den wichtigsten Experten in Deutschland für das Thema wiedergutmachende Gerechtigkeit.

"Sondern damit ist gemeint, dass wir über bestimmte unerwünschte Nebenwirkungen dieses hoch-spezialisierten, hochprofessionalisierten Systems nachdenken und überlegen: Was gäbe es denn für Alternativen an der einen oder anderen Stelle dafür?"

Strafe kann eine Möglichkeit sein, dem Opfer Genugtuung zu verschaffen.

"Meistens wollen aber Opfer was ganz anderes. Sie wollen zum Beispiel, dass die Wahrheit gesagt wird. Dass das, was passiert ist, nicht irgendwo ihnen auch mit zugeschrieben wird. Sie wollen öffentliche Erklärungen des Täters; sie wollen Entschuldigungen; sie wollen natürlich auch materielle oder symbolische Wiedergutmachungen. Aber was Opfer eigentlich selten wollen, ist einen anonymen Prozess, der völlig unbeeinflussbar durch sie stattfindet."

In der Mainzer Beratungsstelle "Opfer- und Täterhilfe Rheinhessen" können Opfer andere Erfahrungen machen. Rund vierzig Prozent der Mediationen hier behandeln sogenannte einfache und gefährliche Körperverletzungen. Dazu kommen Bedrohung, Beleidigung, Nötigung, Betrug, Unterschlagung und am Ende der Skala Diebstahl mit sechs Prozent der Fälle. Die Staatsanwaltschaft entscheidet darüber, ob eine Strafsache an die Mediatoren weitergeleitet wird. Gleichwohl ist das außergerichtliche Verfahren für Opfer wie Täter freiwillig. Wenn es nicht gewünscht wird oder misslingt, kommt die Angelegenheit vor Gericht.

"Ein großer Unterschied und ein Vorteil ist natürlich, dass man hier anders reden kann als in der Gerichtsverhandlung. Das Opfer wird in der Gerichtsverhandlung gehört, in dem Sinne, dass es befragt wird, aber wie er sich fühlt oder all diese subjektiven Dinge, die ja auch ein Opfer-Dasein ausmachen, die kommen da eigentlich nicht zur Sprache. Und das ist hier möglich, also jemandem auch mal zu sagen, wie man sich fühlt oder was man denkt - das ist ein Vorteil."

Auch der Täter wird während der Mediation sprechen. Zu schweigen, das gehört im Rechtsstaat zu den Grundrechten eines Tatverdächtigen. Viele Opfer empfinden es jedoch als neuerliche Demütigung. Christa Pelikan ist Rechtssoziologin am Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien.

"Wir haben im Deutschen dieses sehr schöne Wort leid tun. Ich nehme das Leid, das ich dem anderen angetan habe; ich sehe es als meines. Ich spüre es als meines. Es tut mir leid. Und dahin zu gelangen - was nicht immer gelingt, ist eh klar, zu diesem "Es tut mir leid", das zu hören, von dem, der das getan hat - das ist ganz sicherlich, und das wissen wir mittlerweile aus zahlreichen Untersuchungen, ein sehr wichtiger Aspekt für das Opfer."

In den allermeisten Fällen reicht ein einziges gemeinsames Gespräch, nicht länger als anderthalb Stunden, um Konflikte zu klären, die im Affekt eskaliert sind. Für Nachbarschaftskonflikte, die sich über längere Zeit aufgebaut haben, setzen die Mediatoren zwei bis drei Gespräche an.

Sich Auge in Auge gegenüber sitzen, dem Opfer zuhören, wenn es seine Gefühle schildert - im Mediationsverfahren ist der Täter in ganz anderer Weise gefordert als im Strafprozess. Dort kümmern sich andere um seine Belange - der Anwalt, die Staatsanwaltschaft. Er sitzt als Zuschauer dabei. Das Prinzip im Gerichtssaal lautet "gewinnen oder verlieren" - nicht Dialog.

"Der Täter vor Gericht, der wird von seinem Anwalt darauf trainiert, Entlastungsargumente zu finden; also Argumente dafür zu finden, warum das nicht so schlimm war und warum er sozusagen selbst eigentlich gar nicht schuld war; insofern wird ein Täter eher da drauf trainiert, von seiner Verantwortung abzusehen und entlastende Argumente zu finden."

Sollte der Täter mit einer Haftstrafe belegt werden, wird er lernen zu gehorchen und sich zu unterwerfen. Der Stärkere setzt sich durch - das wird im Gefängnis seine Erfahrung. Was aber müsste der Täter lernen? Auch danach fragt die wiedergutmachende Gerechtigkeit - und möchte dem Täter die Einsicht vermitteln, dass er persönlich aktiv werden muss, um Vergebung zu erfahren. Einsicht jedoch lässt sich nicht erzwingen.

"Wir bringen es auf die Tagesordnung, wir sorgen für eine Atmosphäre, dass man da gefahrlos drüber reden kann, und dann sagt halt zum Beispiel das Opfer, dass es gerne Schmerzensgeld haben möchte, für die Verletzung, und dann fangen die ein Stück an zu verhandeln, das ist nicht immer angenehm, über Geld zu reden, aber wenn man eine Einigung erzielen will, muss man es irgendwann tun. Und dann ist es natürlich besser, sie tun es hier."

Oft wird im Laufe des Gesprächs ein Schmerzensgeld ausgehandelt und nach der Erfahrung des Mediators haben die Beteiligten häufig ein natürliches Gespür für die Summe, die der Verletzung angemessen wäre. Die Berater sagen dazu nichts und beurteilen den Konflikt auch nicht. Präsenz und Aufmerksamkeit bei höchster Zurückhaltung - das ist die Rolle des Mediators. Und nicht sie beurteilen den Erfolg der Mediation, sondern ihre Klienten müssen damit zufrieden sein.

"Mediation mobilisiert die eigene Weisheit der Streitenden. Es zielt ja darauf, dass der eine versteht, worum es dem anderen geht, und auf dieser Verständnisbasis dann die Streitenden mit Hilfe des Mediators ihre eigenen Lösungen erarbeiten. Man muss das wirklich betonen - ihre eigenen Lösungen."

"Dann kann man wirklich sehen, dass das hinterher entspannter ist, dass die lockerer sind, dass die am Ende auch anders miteinander reden, im günstigen Fall gehen sie natürlich auch gemeinsam hier raus und reden manchmal auch vor der Tür noch weiter; das kann man schon feststellen - ja."

Die Rechtssoziologin Christa Pelikan ist als Wissenschaftlerin zu Fragen der alternativen Konfliktregelung europaweit forschend und beratend tätig, unter anderem für den Europarat und die Europäische Kommission. In ihrer jüngsten Studie hat sie die Zufriedenheit von Opfern nach Mediationsverfahren untersucht. Die Studie lief über zwei Jahre und es wurden dazu Opfergruppen in mehreren europäischen Ländern befragt. Das Ergebnis: Die überwiegende Mehrheit der Opfer erlebt und beurteilt die Mediation positiv - sogar positiver, je schwerer die Straftat war. Warum? Im Täter-Opfer-Ausgleich werden Probleme gelöst, die in einem Strafprozess ungelöst blieben. Zum Beispiel ist für Jugendliche nach tätlichen Auseinandersetzungen eines besonders wichtig:

"Was mach ich, wenn ich dieser selben Person wieder begegne? Sozusagen Arrangements, um sicherzustellen, dass bei einer Wiederholung einer konflikthaften Situation nicht wieder eingerastet wird auf dieser Ebene der Gewaltausübung. Sondern dass man weiß, aha, ich grüß und dann geh ich, oder ich sag zwei Worte mehr, oder ich sag gar nix, ich dreh mich um. Diese sehr konkreten Besprechungen, das ist eine wesentliche Leistung dieser Mediation."

Was die Rückfallquote von Tätern nach Mediationsverfahren angeht, ist die europäische Datenlage noch unzureichend. Einige Studien weisen jedoch bereits darauf hin, dass Täter nach einer Mediation signifikant seltener rückfällig werden als nach Geldstrafen. Die Rückfallquoten scheinen sogar um so niedriger zu liegen, je schwerer die Straftat war.

Doch die Mediation stößt auch an Grenzen, erklärt der Mainzer Mediator Andreas Prause:

"Eine Grenze haben wir gezogen bei sexuellen Straftaten. Ansonsten: Ich habe Grenzen da, wie die Leute miteinander umgehen, wenn ich merke, dass man sich nicht ernst nimmt im Gespräch oder dass man versucht, hier irgendwelche Spielchen abzuziehen, dann beende ich auch Gespräche. Das kommt aber in der Regel sehr selten vor. Ansonsten entscheiden das die Beteiligten selbst, also auch da gibt es ja immer Situationen, dass jemand sagt, nein, so lasse ich nicht mit mir reden, für mich ist das Gespräch jetzt beendet. Auch das kann passieren. Das entscheidet jeder für sich selbst."

Beim Mainzer Täter-Opfer-Ausgleich melden sich zwanzig bis dreißig Prozent der Täter nicht, denen das Mediationsverfahren schriftlich angeboten wird. Bei den Geschädigten liegt diese Zahl noch höher, denn viele wünschen dem Täter keine Milderung der Strafe. Die Erfolgsquote der Mediationen selbst liegt dann bei etwa fünfzig Prozent. Und natürlich kommt es auch vor, dass ein Täter das Mediationsverfahren aus reinem Kalkül in Anspruch nimmt. Doch auch sie können durch die Mediation erreicht werden:

"Es ist nicht so einfach, sich hier einfach hinzusetzen und zu sagen, ach ja, ich mache das jetzt mal, sondern in dem Moment, in dem die hier sitzen, kommt das ja genau so auch beim anderen an. Und das Gegenüber reagiert dann auch darauf, und dann kann man sich nicht einfach so da raus ziehen."

Alternativen zur strafenden Gerechtigkeit finden seit den 1980er-Jahren zunehmend Eingang in die Gesellschaft, und zwar weltweit. Dazu zählen etwa die Wahrheits- und Versöhnungskommissionen nach dem Sturz von Diktaturen. Vielfach greifen solche Ansätze auf traditionelle Formen der Konfliktbearbeitung zurück, da in dörflichen Kulturen häufig nicht die Strafe, sondern die Wiederherstellung der sozialen Beziehungen im Vordergrund steht. Eine dieser Methoden stammt aus Neuseeland - das "Family Group Conferencing", auf Deutsch auch "Familienrat" genannt. Frank Früchtel, Professor für Sozialarbeit:

"Es ist ursprünglich aus einer Protestbewegung der neuseeländischen Ureinwohner entstanden. Die Maoris in Neuseeland, die haben dem Jugendhilfe-System institutionellen Rassismus vorgeworfen - Familien und unterschiedliche Kulturen brauchen aber sehr unterschiedliche Problemlösungswege, und ein professionelles System, das sozusagen Kultur-sensibel ist, müsste es schaffen, viel unterschiedlicher reagieren zu können."

In Familienräten wird die Gesellschaft in den Entscheidungsprozess einbezogen - Justizmitarbeiter, Verwandte, Freunde, Nachbarn und Kollegen sowohl des Opfers wie des Täters, selbst engagierte Bürger können dabei sein. Die kleinsten Familienräte umfassen etwa sieben oder acht Menschen, große Konferenzen können auf einhundert Beteiligte anwachsen. In Neuseeland ist das Verfahren im Jugendstrafrecht gesetzlich vorgeschrieben. Eines seiner Merkmale ist die völlige Zurückhaltung der professionellen Helfer.
"Die größte Family Group Conference, die ich in Neuseeland erlebt habe, war wirklich ungefähr achtzig Leute; und dann ist die Rolle der Fachkräfte zu sagen, was aus ihrer Sicht das Problem ist; was es für wissenschaftliche Erkenntnisse zu diesem Problem gibt; was es auch im Prinzip für wissenschaftliche Problemlösungswege gibt; und damit ist die Rolle der Fachkräfte erst einmal erledigt und die Fachkräfte verlassen physisch den Raum."
Die Gruppe bleibt nun unter sich und entwickelt einen Plan, auf welche Weise eine Wiedergutmachung der Tat erreicht werden könnte. Mindestens zwei Stunden dauert diese Phase. Dann werden die Fachkräfte wieder dazu geholt, und die Konferenz stellt ihre Lösungsidee vor.

"Nicht die Experten machen den Plan, sondern die Familien-Gruppe macht den Plan. Und der Kreis wird sozusagen so groß gemacht, wie nur irgend möglich."

Eine andere Form der wiedergutmachenden Gerechtigkeit sind die sogenannten "Kreisprozesse". Sie gehen auf die indigenen Kulturen Nordamerikas zurück. Das Symbol des Kreises drückt vieles aus: Gemeinschaftlichkeit, Geschlossenheit, das Rad der Bewegung. In einem Kreisprozess sprechen alle auf gleicher Augenhöhe miteinander, Hierarchien gibt es nicht, jeder Beteiligte ist gleich wichtig. Nicht um Strategien zur Problemlösung geht es hier - sondern um "Storytelling". Im Kreis sitzend, erzählt jede und jeder seine Geschichte und hört den Geschichten der anderen zu. Die Heilung der menschlichen Beziehungen steht im Mittelpunkt.

"Bei Kreisprozessen ist zum Beispiel Emotionalität eine ganz willkommene Sache, weil - Emotionalität hilft natürlich auch, einen Prozess voranzutreiben. Spiritualität spielt bei Kreisprozessen eine Rolle; also alles diese Dinge, die in der offiziellen Sozialarbeit und im offiziellen Gerichtsverfahren keine Rolle spielt. In der nur Rationalität, Objektivität die zentralen Steuerungsmechanismen darstellen."

Kreisprozesse können in unterschiedlichen Zusammenhängen eingesetzt werden: um Hilfeleistungen zu planen, um Nachbarschaften aufzubauen oder eben um Straftaten zu bearbeiten. Denn die Straftat hat nicht nur das Opfer geschädigt, sondern auch seine Familie und sogar den Stadtteil, weil das Leben dort nun unsicherer geworden ist. Darum sind auch alle diese Menschengruppen daran interessiert, die Ursachen der Tat oder des Konfliktes zu bereinigen. In Kreisprozessen können sich Vorstellungen von Gerechtigkeit artikulieren, die dem Strafrecht sehr fern und fremd sind. Zum Beispiel kann es passieren, dass Opfer die Verantwortung für das Wohl des Täters mit übernehmen.

"Der spektakulärste Fall, der ist mir in Amerika begegnet: Es ging um eine Frau, deren Sohn von einem jungen Mann in einen Konflikt getötet wurde. Und das Ergebnis dieser conference - und vieler anderer Gespräche natürlich auch, die conference war da nur der Startpunkt - war, dass die Frau den Täter anstelle ihres Sohnes adoptiert hat. Das kann man sich eigentlich gar nicht vorstellen, nicht wahr? Das ist sehr, sehr ungewöhnlich, so was. Damit war auf der einen Seite ihr geholfen - und auf der anderen Seite natürlich auch dem Täter geholfen."

So romantisch das klingt - genau darin kann das Problem der Kreisprozesse bestehen: Wenn sie sehr stark auch den Täter und seine Netzwerke mit einbeziehen, gerät das Opfer möglicherweise wieder ins Hintertreffen. Die Rechtssoziologin Christa Pelikan.

"Der heikle Punkt - und das ist tatsächlich überall so, wenn man herum schaut, und das ist auch ganz gut belegt - der heikle Punkt ist, dass zum Teil diese circles doch sehr täterzentriert sind. Es geht dann wieder um die Unterstützung und die Einbindung und die Wiedereingliederung des Täters."

Mehr und mehr öffnen sich die europäischen Gesetzgeber für die kleinere Form der Begegnung - den Täter-Opfer-Ausgleich mit seinen klaren positiven Effekten. In den skandinavischen Ländern und hier besonders in Finnland ist das System bereits gut implementiert. Auch hierzulande finden sich mehr und mehr strafrechtliche Regelungen dazu. Allerdings sind sie bislang noch überall in der Rechtsordnung verstreut und ohne wirklichen Zusammenhang. Die zentrale Norm im Strafverfahrensrecht bildet Paragraf 155a der Strafprozessordnung. Danach müssen Staatsanwaltschaft und Gericht in jedem Stadium des Verfahrens prüfen, ob zwischen Beschuldigten und Verletzten ein Ausgleich erreicht werden kann. Paragraf 46a eröffnet dem Täter die Aussetzung oder Milderung der Strafe, wenn er im Rahmen eines Täter-Opfer-Ausgleichs Wiedergutmachung leistet. Dazu der Richter Amr Sarhan.

"Man kann das im Grunde so übersetzen: Die Strafprozessordnung bringt zum Ausdruck, dass es immer besser ist, wenn Opfer und Täter eine tatsächliche Befriedigung durch einen Täter-Opfer-Ausgleich herbeiführen. Das Gesetz bringt meines Erachtens mit dieser Norm ganz klar zum Ausdruck, dass der Sinn der Strafe auch in der Besänftigung des Opfers liegt. Leider hinkt die Strafrechtswissenschaft bei der Beurteilung dieses Befundes hinterher, weil sie nach wie vor meint, das Anliegen des Strafrechts sei ein rein öffentliches, ausgerichtet an den Allgemeininteressen."

Bislang bietet die deutsche Justiz nur einem Bruchteil der infrage kommenden Täterinnen und Täter eine Mediation an. Die Gründe hat bislang niemand erforscht. Möglicherweise sind die Justizpraktiker - Strafverteidiger, Nebenklagevertreter, Richterinnen und Richter, Staatsanwälte - mit dem Modell noch nicht vertraut genug, um geeignete Fälle reibungslos an die Beratungsstellen weiterzuleiten.

"Weiter, denke ich, besteht auch eine gewisse psychologische Hemmschwelle in der Justiz. Wir haben es eben mit einem neuen Paradigma im Strafrecht zu tun, der Täter-Opfer-Ausgleich ist ja eine informelle Methode der Erledigung zwischen Täter und Opfer - und das passt natürlich nicht so recht in Gedanken, dass das Strafrecht eigentlich eine öffentliche Aufgabe ist und es hier um das Verhältnis zwischen Täter und der objektiven Rechtsordnung und der Gemeinschaft geht."

Zudem fehlt es an Ansätzen, Mediationsverfahren auch bei schwereren und schwersten Straftaten einzusetzen. Geht es nach den Fürsprechern der wiederherstellenden Gerechtigkeit, sind die Möglichkeiten von Mediationsverfahren hierzulande noch längst nicht ausgelotet. In Österreich gibt es Beratungsstellen, die auch nach schwerer häuslicher Gewalt Mediationsverfahren anbieten. In Belgien werden sogar nach Mordprozessen Begegnungen herbeigeführt zwischen dem verurteilten Mörder und der Opferfamilie.

"Es gibt nach oben eigentlich keine Grenze, und man weiß ja, dass Verfahren, die auf diese wiedergutmachende, dialogische Gerechtigkeit abstellen, auch nach ganz ganz schweren massiven Gewaltausbrüchen - staatlicher Gewalt, Gewalt zwischen politischen Gruppen, ich nenne das Beispiel von Südafrika -, dass es da zur Anwendung kommt. Es ist möglich."

Richtig/falsch, gut/böse, Opfer/Täter - das Strafrecht folgt einem binären Schema. Es arbeitet mit einer klaren Zuweisung von Unschuld und Schuld - und wie die Ordnung wieder herstellt werden soll, entscheiden Rechtsexperten, nicht die Betroffenen selbst. Dieses alte Paradigma hat sich tief in das Recht und den Justizalltag eingeschrieben. Es unterschätzt die Potenziale der Beteiligten - und viele Fälle sprengen das simple Schema.

"Nehmen Sie als Beispiel einen Nachbarschaftsstreit, bei dem eine Straftat lediglich Symptom einer wechselseitigen, immer wieder verletzenden Auseinandersetzung ist. Da kann man natürlich jetzt mit den Mitteln des Strafrechts eine Strafe verhängen. Aber die hat ja nur eine einseitige Sicht. Und da erlebe ich auch in der Tätigkeit als Richter meine Grenzen. Das Recht ist nun mal abstrakt und kann die Wirklichkeit in ihrer Komplexität nicht abbilden. Die Wirklichkeit ist viel vielgestaltiger. Sie ist viel komplexer, als dass man in allen Fällen mit dem Recht eine zufrieden stellende Lösung finden kann."

Eine Kultur des Dialogs und der Konsensusfindung, die Geschichten der anderen hören, ihre Gefühle zu sich vordringen lassen, sich jenseits der unmittelbar persönlichen Interessen in eine Gemeinschaftlichkeit aktiv einbinden, eigene Weisheit mobilisieren, anstatt den Experten das Feld zu überlassen - nicht nur die Strafjustiz muss sich für solche Ideen öffnen, schließlich ist sie in die Willensbildung der Gesellschaft insgesamt einbettet. Dominieren, gewinnen, sich durchsetzen - den Kürzeren ziehen, verlieren und sich unterwerfen: Wie stark sind Erziehungskonflikte noch von diesem Denken geprägt? Oder Schulen? Oder Arbeitsplätze? Wiederherstellende Gerechtigkeit setzt auf die Idee, dass selbst nach schweren Konflikten beide Seiten als Sieger vom Platz gehen können.

"Faszinierend ist für mich, dass da unglaublich viel Potenzial in den Menschen ist, ihre Konflikte bis zu einem gewissen Grade selbst zu erledigen. Und das fasziniert mich auch an dieser Tätigkeit als Mediator: zu sehen, dass man unglaublich viel für die Zukunft Positives damit tun kann."

"Es gibt so eine Tendenz, Entscheidungen möglichst immer an Dritte abzugeben oder andere entscheiden zu lassen. Aber das löst oft nicht das Problem. Und das Erfrischende oder Erfreuliche ist: Wenn man den Leuten die Möglichkeit gibt, das selber zu regeln, dann passiert das auch. Und diese Regelungen haben mehr Bestand, als wenn ein Dritter diese Entscheidung für jemanden trifft. Und davon bin ich auch überzeugt. Und deswegen mache ich das auch gerne."