Untreu
Dein Lächeln weint in meiner Brust
Die glutverbissnen Lippen eisen
Im Atem wittert Laubwelk!
Dein Blick versargt
Und
Hastet polternd Worte drauf.
Vergessen bröckeln nach die Hände!
Frei
Buhlt dein Kleidsaum
Schlenkrig
Drüber rüber!
August Stramms expressionistische Lyrik
Buchstaben und Wörter waren sein Metier: August Stramm hat viele andere Dichter beeinflusst. © Unsplash/ Raphael Schaller
Der größte Wortjongleur von allen
54:23 Minuten
Karriere bei der kaiserlichen Post will er machen, promoviert sogar über "Das Welteinheitsporto". Aber dann kommt plötzlich die Lyrik über ihn. Der Expressionist August Stramm dichtet wie niemand zuvor. Noch heute haben Lyriker ihr "Stramm-Erlebnis".
Dieses expressionistische Gedicht ist über 100 Jahre alt. Aber man merkt es ihm nicht an. Es klingt hochmodern, und seine ungewöhnliche Sprache überzeugt noch immer. Das "O-Mensch-Pathos" vieler Lyriker des Expressionismus wirkt dagegen altbacken, und Georg Heym, Ernst Stadler oder Franz Werfel werden heute allenfalls von Wissenschaftlern gelesen.
Dichten, diese alles vernichtende Krankheit
Das Gedicht "Untreu" aber hat noch heute seine Anhänger, die die Verse "Dein Lächeln weint in meiner Brust" oder "Dein Blick versargt" zitieren können. Dieser fast jazzig-synkopierte Rhythmus! Das funktioniert noch immer. Das ist unsterblich. Das ist August Stramm.
Stramm wurde am 29. Juli 1874 in Münster geboren. Er war nicht nur einer der ältesten unter den deutschen Expressionisten, sondern auch ein echter Spätzünder: Erst mit knapp 40 Jahren entdeckt er die Lyrik für sich. Zum Entsetzen der Familie. Seine Tochter Inge sieht im Dichten des Vaters eine Krankheit voll "vernichtender Gewalt", die "wie ein Sturm über den blühenden Garten seines bürgerlichen Lebens" gekommen sei.
Karriere bei der kaiserlichen Post
Tatsächlich machte August Stramm Karriere bei der kaiserlichen Post. 1909 promovierte er über "Das Welteinheitsporto" und zog, befördert zum Postinspektor, nach Berlin-Karlshorst. Dort erst begann er zu dichten, wie vor ihm niemand in Deutschland gedichtet hat:
Vorfrühling
Pralle Wolken jagen sich in Pfützen
Aus frischen Leibesbrüchen schreien Halme Ströme
Die Schatten stehn erschöpft.
Auf kreischt die Luft
Im Kreisen, weht und heult und wälzt sich
Und Risse schlitzen jählings sich
Und narben
Am grauen Leib.
Das Schweigen tappet schwer herab
Und lastet!
Da rollt das Licht sich auf
Jäh gelb und springt
Und Flecken spritzen -
Verbleicht
Und
Pralle Wolken tummeln sich in Pfützen.
Alle Launen des Vorfrühlings, erste Blüten, starke Farbkontraste, helles Licht, dazu die Kapriolen des Wetters, umspringende Winde, Regenschauer – all das bildet Stramm nicht einfach ab. Er baut es auf – aus Worten. Er verlagert den meteorologischen Kampf in die Sprachstruktur.
Beat, Offbeat, Synkope
Er dynamisiert die Grammatik, indem er sie aufbricht. Aus Verben werden Nomen, es "schreien Halme Ströme"; aus Nomen werden Verben: "Risse [...] narben"; Einsilber peitschen den Beat voran in "Jäh gelb und springt", dann der Offbeat, die Synkope in der nächsten Zeile: "Und Flecken spritzen".
Der Ein-Wort-Vers "Verbleicht" drückt mit seinem ganzen jambischen Gewicht auf die Zeile. Danach wieder nur ein Wort im Vers – "Und" –,und dieses "Und" leitet den Schluss ein, der wie in einem Ritornell den Eingangsvers wiederholt, leicht variiert durch das Verb "tummeln" statt "jagen".
Viele haben ein "Stramm-Erlebnis"
Mit solch durchdachten und wirkungsvollen Kapriolen macht sich Stramm zwar nicht in der Familie, wohl aber bei den Kollegen Freunde. Als er mit nur 41 Jahren im Ersten Weltkrieg erschossen wird, hinterlässt er ein dem Umfang nach überschaubares Werk. Kaum zu überblicken ist jedoch dessen Bedeutung. Stramm prägt Generationen von Autoren: Kurt Schwitters, Arno Schmidt, Ernst Jandl, Ulf Stolterfoht – sie alle haben ihr Stramm-Erlebnis.
André Hatting spürt dem Lyriker, seinen Gedichten und dem Menschen August Stramm nach und gerät sogar in dessen Karlshorster Wohnung. Zur Einweihung 1909 wurde sie kurzerhand in eine Kneipe namens "Zum strammen Hund" verwandelt, und der Postinspektor machte die Drag Queen: Er schlüpfte in das Kostüm einer Wirtsfrau und zerdepperte fleißig Porzellan.
Das Manuskript zur Sendung finden Sie hier.
Regie: Friederike Wigger
Ton: Alexander Brennecke
Besetzung: Martin Engler, Mareike Hain, Max Urlacher, André Hatting
Redaktion: Jörg Plath