Aura Xilonen: "Gringo Champ"
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Hanser, München 2019
335 Seiten, 23 Euro
Wundersamer Aufstieg eines Waisenjungen
Ein Junge aus Mexiko boxt sich hoch: zum erfolgreichen Kampfsportler in den USA - und schließlich zum Schriftsteller. Aura Xilonens viel gelobter Debütroman ist nicht frei von Kitsch und Klischees, aber jugendlich frisch und sprachlich originell.
Die klassische Heldengeschichte: Ein Waisenjunge aus Mexiko, kaum volljährig, flieht in die USA. Kein Grenzzaun ist ihm zu stachelig, keine Wüste zu trocken. Halb verdurstet, mit verbrannter Haut schafft Liborio es auf die andere Seite, ins gelobte Land.
Liborio - im Namen klingt schon der Drang des Jungen nach Freiheit und Unabhängigkeit an. Und dieser Liborio boxt sich nach oben. Im Wortsinn. Denn der schmächtige Kerl hat so ungewöhnlich harte Fäuste, dass er seine Gegner mit einem Hieb niederstreckt.
Gleichzeitig machen ihm Gegenschläge im Ring oder auf der Straße kaum etwas aus. Selbst mit schmerzenden Knochen und blutenden Wunden steht er immer wieder auf. Das Video einer wüsten Prügelei, in dem er der erdrückenden Übermacht einer Gang widersteht, geht viral durchs Internet und macht ihn berühmt.
Zwischen Straßenslang und Literatursprache
Doch der gefeierte Champion hat es nicht nur in den Fäusten, sondern auch im Kopf: Während eines Jobs in einem Buchladen fängt er an zu lesen – nichts Geringeres als die Klassiker der Weltliteratur, angefangen bei Vergil und Dante. Damit bekommt der Roman eine zweite Ebene: die der Literatur. Bücher werden für Liborio und die jugendlichen Straßenkinder um ihn herum zu Rettern aus Verzweiflung und Alltagselend.
Aura Xilonens Debüt-Roman, den die Autorin als Neunzehnjährige schrieb, hat bei seinem Erscheinen in Mexiko für Furore gesorgt. Doch muss man "Gringo Champ" nicht gleich, wie die "Los Angeles Review of Books", als einen der "bedeutendsten Romane der mexikanischen Literatur des 21. Jahrhunderts" bezeichnen. Die Geschichte vom wundersamen Aufstieg des armen Migrantenjungen ist nicht frei von Kitsch und Klischee.
Sprachlich ist es jedoch in der Tat ein außergewöhnliches Buch: Xilonen springt zwischen einem derben Straßendialekt und einer altertümlichen Literatursprache hin und her. Genau diese mitunter schmerzhaften stilistischen Brüche machen die Originalität des Romans aus. Man spürt das Herantasten der jungen Autorin an die Literatur, ihr Ringen um eigene Ausdrucksmittel, den Kampf um eine eigene Sprache.
Ein Roman ohne die geringste sexuelle Anspielung
Liborio, so erfährt der Leser am Schluss, schreibt in einer zweiten Erzählebene seine eigene Lebensgeschichte in Form von Briefen an eine Geliebte. Eine keusche Liebe, wie im Übrigen der gesamte Roman ohne die geringste sexuelle Anspielung auskommt – was angesichts des Halbstarken- und Prostituierten-Milieus, in dem er angesiedelt ist, überrascht.
Der züchtige Boxer Liborio schafft nicht nur den Weg vom verachteten Flüchtling zum erfolgreichen Kampfsportler. Er wird auch selbst zum Schriftsteller und zu einer Art Wiedergänger des größten tragikomischen Helden der Weltliteratur: Don Quijote, verbissener Kämpfer gegen die Unbill der Welt und glühender Verehrer seiner idealen Geliebten Dulcinea.
Am Ende dieses faszinierenden, jugendlich frischen, wenn auch in seinen literarischen Ambitionen etwas überspannten Romans lesen die Protagonisten alle Cervantes' epochales Werk über den Kämpfer gegen die Windmühlen.