Aus Argwohn wird Eifer
Wenn neue Flüchtlingsunterkünfte entstehen, ist die Anwohnerschaft oftmals misstrauisch und - wie zuletzt in Berlin-Hellersdorf - kommt es sogar zu Ausschreitungen. Auch im Hannoveraner Stadtteil Oberricklingen war niemand begeistert, als plötzlich ein Heim für Flüchtlinge aufgemacht wurde. Aber letztlich siegte Mitgefühl und Neugierde der Anwohner.
„Also, ich gucke hier von meinem Haus aus, und in zwanzig Meter Entfernung steht ein Flüchtlingsheim der Stadt Hannover."
Gerhard Spitta, ein lebendiger kleiner Mann Anfang 70, steht im Licht der Morgensonne auf der Einfahrt seines Grundstücks im Hannoveraner Süden. Nachdenklich blickt er zu dem schmucklosen, weiß getünchten Gebäude auf der anderen Straßenseite.
„Die direkte Nähe ist hier natürlich gegeben, und deshalb nimmt man auch Anteil an dem Leben, das da drüben stattfindet."
Vor einem Jahr noch war an Anteilnahme nicht zu denken. Als die Pläne zur Flüchtlingsunterbringung in dem ehemaligen Bunker bekannt werden, machen schnell Unterschriftenlisten die Runde. Es formiert sich der Widerstand der Nachbarschaft und auf der Bezirksversammlung wird hitzig debattiert. Nachbar Siegfried Melching, ebenfalls Rentner und Mitglied der Kirchengemeinde, tritt an den Gartenzaun. Er zieht die Augenbrauen zusammen, als er sich erinnert:
„Da war ein Aufruhr. Es gab keinen, der dafür gesprochen hat! Ja, sie können kommen - aber nicht bei uns!"
Dass heute einiges anders ist, zeigt sich an diesem Vormittag im Wohnzimmer von Gerhard Spitta. Es duftet nach Kaffee, am großen ovalen Tisch sitzen drei Flüchtlinge aus dem Heim neben mehreren Anwohnern - es herrscht eine gelöste Stimmung. Siegfried Melching erzählt von einer anstehenden Aktion…
Einige in der Runde nicken zustimmend. Gerhard Spitta und Siegfried Melching sind Mitglieder eines inzwischen 20-köpfigen Nachbarschaftsrats, der sich hier gegründet hat. Die Idee hierzu entstand bereits auf der benannten Bezirksversammlung:
„Da kamen sehr schnell Beiträge wie: Mensch, wir sind doch selbst zum Teil Flüchtlinge gewesen, wir waren auch nicht willkommen - und so schlug diese Sache um."
Spitta kennt das Fremdsein - als Sohn eines Nazigegners musste er als Kind ständig umziehen. „Das hat sich schon eingebrannt", sagt er. Spitta übernahm die Koordination der Unterstützungsorganisation - wieso auch nicht, grinst er, als Rentner habe er ja ohnehin viel Zeit. Seither sammeln sie Fahrräder, Elektrogeräte und Hausrat, aber auch Kinderspielzeug. Darüber ist Diana, 38 Jahre alt, aus Ghana und stolze Mutter, besonders froh:
„Ich möchte sagen, wir danken den Nachbarn und Nachbarinnen hier. Die Leute haben uns sehr, sehr geholfen... Und manchmal geben sie unseren Kindern Geschenke, Teddybären, Kleidung, Schuhe - alles."
Die Diskussion geht weiter. Es ist noch Vieles in Planung - Ausflüge in umliegende Städte zum Beispiel, aber vor allem der Ausbau der Sprachförderung der Flüchtlinge:
„Das war das erste, was wir gemacht haben, dass wir über eine Organisation, die hier in Hannover Sprachkurse anbietet, in Zusammenarbeit mit dem Heim, dieses inszeniert haben. Die geben hier zwei Kurse die Woche deutsch."
Auch Diana lernt so deutsch. Abdallah, ein kräftiger Schwarzafrikaner, hat bislang still mit am Tisch gesessen. Er ist seit gut zwei Jahren in Deutschland:
„Ich bin 43 Jahre, ich habe sechs Tochter, einen Sohn."
Alle paar Monate erhält er eine neue Duldung. Als Abdallah von seiner Flucht aus Burundi erzählt, wird es still im Raum. In seiner Stimme liegt Verbitterung:
„Ich bin nicht direkt nach Deutschland gekommen, nein. Ich bin aus Burundi losgefahren und über Ruanda, Uganda und Kenia gekommen. Dann Istanbul, Türkei. Dann Griechenland, dann Deutschland."
Er erzählt von einer Odyssee über Ruanda, Uganda, Kenia, Türkei und Griechenland. Nach drei Jahren erreicht Abdallah schließlich Deutschland. In sein Heimatland kann er nicht zurück, er wird als politischer Oppositioneller verfolgt. Sieben Kinder warten dort, sein Traum ist es, sie eines Tages zu sich nach Deutschland zu holen.
Es geht zum Heim hinüber. Hinein darf das Mikrofon nicht, aus Sicherheitsgründen. Abdallah und Abusaif, ein 40-jähriger Jordanier, wollen aber den Ort des Sommerfests zeigen, das vor einigen Wochen stattfand. Sie führen in den Garten, ein Grill lehnt noch an der Hauswand.
„Hier hatten wir Tische hingestellt, das Essen wurde in der Küche zubereitet. Es gab aus Afrika gebackene Bananen, einen Auflauf, Reisgerichte, und Hähnchen gegrillt. Und auch Salate, von den Nachbarn, auch Nudelsalat."
Hinter der Fensterscheibe des Nachbarhauses schaut eine alte Dame neugierig herüber - Abusaif kennt sie. Sie ist misstrauisch, aber beim Sommerfest hat sie das Fenster aufgemacht und ein Stück Kuchen gegessen, das er ihr hinaufgereicht hat, erzählt er.
Abdallah hat sich inzwischen ins Haus zurückgezogen und taucht im ersten Stock wieder auf, am Fenster seines Zimmers, aus dem Musik zu hören ist...
Er winkt fröhlich hinunter - in der Hand einen Wischlappen. „Abdallah hält alles sauber," meint Abusaif, „irgendwie muss man sich ja beschäftigen". Immerhin kann man im Haus selbst Kochen und Waschen, anders als in vielen größeren Auffanglagern.
Es ist inzwischen kurz vor Mittag, von der benachbarten Grundschule klingt Kindergeschrei herüber. Auch ein Flüchtlingskind hat dort einen Schulplatz - Schulleiter Michael Strümpel führt zu dem Siebenjährigen, der an einem Tisch konzentriert Bauklötze stapelt - ein halbes Jahr ist der Junge hier, deutsch hat er schnell gelernt:
„Das ist gut hier. Ich spiele hier Lego. Hier ist gut Schreiben und Lesen."
Georgi ist wieder ganz bei seiner 'Baustelle'. Er wird nicht lang allein bleiben: Der Nachbarschaftsrat plant, zukünftig allen Heimkindern im schulpflichtigen Alter einen Platz in der Schule zu verschaffen - keine Selbstverständlichkeit für Flüchtlinge mit Duldungsstatus.