Aus dem Geist der Katastrophe

Von Josef Schmid · 29.07.2011
"Fukushima hat geholfen", raunt man sich im Lande zu, nachdem eine Wende von geschichtlicher Tragweite eingeleitet worden war. Die zweite Industrienation, was Produktion und Außenwirtschaft betrifft, stellt ihre industriellen Voraussetzungen auf eine neue Grundlage: auf die erneuerbaren Energiequellen Wasser, Wind und Sonne. Es ist, als ginge ein Traum in Erfüllung: die Versöhnung der industriellen Moderne mit der Natur.
Damit hat sich Deutschland einer neuerlichen Wiedervereinigung verschrieben, nämlich der konkreten Ausgestaltung dessen, was in ihm scheinbar unversöhnlich schlummert: exemplarische Industrienation und zugleich eine romantische Nation zu sein.

Grundsatzentscheidungen der Politik beruhen selten auf der vielgerühmten Aufklärung, auf Wissenschaft oder Rationalität, sondern auf einer rechtfertigenden Katastrophe. Sie liefert die Gewissensberuhigung bei einschneidenden Entschlüssen. Das muss man bedauern. Wenn man nicht zu entscheiden wagt, weil man den Wertewandel lieber der Gesellschaft, einer anonymen, unsichtbaren Hand überlässt; wenn Politik nicht mehr als kollektiver Wille und Zweck in Erscheinung tritt, dann muss sie auf die passende Katastrophe warten, und wenn die als Argumentationshilfe von anderen Weltteilen herangeholt wird.

Die Aufklärung setzte auf Eigenvernunft: Sie sei ein Instrumentenkasten, den jeder bei sich trage. Keiner habe es nötig, Teile des Lebens in ein Jenseits zu verlagern, noch die Entscheidungsgründe für Veränderungen im Diesseits weit außerhalb seiner selbst zu suchen. Bediene dich deines eigenen Verstandes!, heißt die bekannte Formel.

Dazu passt es nicht, wenn Antiterrorgesetze erst nach schweren Anschlägen durchzubringen sind, Asylgesetze erst ins Auge gefasst werden, wenn die Antragsteller nicht mehr unterzubringen sind; und dazu passt auch nicht, dass eine Naturkatastrophe am anderen Ende der Welt gewissermaßen die Erlaubnis für einen energiepolitischen Alleingang in Mitteleuropa erteilt.

Das sichtbare Grauen war doch der Tsunami, ausgelöst von einem Erdbeben. Er riss Häuser und Schiffe mit sich wie Pappkartons und versetzte ein Kernkraftwerk ins Überschwemmungsgebiet. Dass dies die Aufmerksamkeit der Welt am meisten erregte, änderte nicht die Tatsache, dass dies in der nüchternen Betrachtung der Ursachenkette der Katastrophe weiter hinten lag.

Eine aufgeklärte Nation müsste aus eigenem Stand heraus zu einer Energiewende kommen und nicht über ferne Naturkatastrophen, deren Ereigniswahrscheinlichkeit in Jahrtausenden berechnet wird und welche anhand eines alptraumhaft zerstörten Kernkraftwerks in technisch-menschliches Versagen umgedeutet werden. Die Katastrophengesellschaft, die hier ihre Konturen zeigt, steckt hinter der häufiger genannten Risikogesellschaft. Beide erhalten sich gegenseitig am Leben, zumindest als Vokabeln im Vorfeld der Politik.

Doch die Energiewende in Deutschland soll auch ihre romantische Seite haben. Ein geopolitisch korrektes Gemeinschaftswerk kommt jetzt wie gerufen, denn gerade die Ersatzkonstruktionen eines Europas der Vaterländer, die uns Politik, Medien und Intellektuelle schmackhaft machen wollen, liegen danieder: die Globalisierung und die Europäische Union.

Das Weltfinanzdebakel stoppt Höhenflüge und macht Schwellenländer stark, ohne dass sie Vorstellungen von westlicher Demokratie anhängen. Die EU ist auf dem Weg zum zwischenstaatlichen Finanzausgleich. Der deutsche Steuerzahler gehört schon längst der Welt und nicht mehr sich selber.

In solch eine Grundstimmung nun ein Werk zu setzen, das uns ähnlich sieht, mit dem wir identisch sein können, hat etwas Geniales. Eine PR-Agentur hätte es nicht besser erfinden können.

Doch da lauert Arbeit, da müssen Entscheidungen getroffen werden, für die nicht "Katastrophenhilfe" abgewartet werden kann. Die Konfliktlinien werden sich bald herausstellen. Sie verlaufen zwischen den Interessengruppen für erneuerbare und fossile Energieträger. Im Agro-Business muss entschieden werden, ob Maisfelder für Mensch, Schlachtvieh oder Sprit abgeerntet werden sollen.

Das benachbarte Ausland hofft auf Rechenfehler in der deutschen Knappheitsbewältigung und wird Strom aus seinen Kernkraftwerken anbieten. Polen verweist bereits auf seine hochwertige Steinkohle. Und dann ist da neben der Industrie noch der Endverbraucher mit seiner Strom- und Gasrechnung. Die wahlwerbende Parteiendemokratie wird sich seiner annehmen müssen.


Josef Schmid, Bevölkerungswissenschaftler und Soziologe, zählt zu den profiliertesten Wissenschaftlern auf seinem Gebiet. Geboren 1937 in Linz, Österreich, studierte er Volkswirtschaft, sowie Soziologie, Philosophie und Psychologie und hatte von 1980 bis 2007 den Lehrstuhl für Bevölkerungswissenschaft an der Universität Bamberg inne. Hauptarbeitsgebiete sind Bevölkerungsprobleme der modernen Welt und der Entwicklungsländer, kulturelle Evolution und Systemökologie. Josef Schmid ist Ehrenmitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanökologie (DGH).

Veröffentlichungen u. a.: "Bevölkerung und Soziale Entwicklung" (1984), "Bevölkerungsveränderungen - Eine Revolution auf leisen Sohlen" (1984), "Das verlorene Gleichgewicht - Eine Kulturökologie der Gegenwart" (1992); "Sozialprognose - Die Belastung der nachwachsenden Generation" (2000; mit A. Heigl und R. Mai); "Bevölkerungswissenschaft im Werden" (2007; mit P. Henssler), über Denkschulen in der deutschen Bevölkerungs- und Industriegeschichte von Friedrich List bis Ludwig Erhard.
Josef Schmid
Josef Schmid© Maurer-Hörsch