Abschied vom sanften Frankreich
Die französische Präsidentschaftswahl war ein bestimmendes Thema in den Feuilletons der Woche: In der "Zeit" schilderten 20 Schriftsteller und Intellektuelle ihre Sorgen - und dachten über mögliche Folgen des Urnengangs nach.
"Philip Roth hat geschrieben, Trumps Vokabular würde 77 Wörter umfassen. Ich fürchte, das ist keine Ironie",
sagt Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison im Interview mit dem neuen SPIEGEL. "Er [Trump] macht mir wirklich Angst, er hat so eine absichtsvolle Ahnungslosigkeit." US-Präsident und gleichzeitig sprachlich zurückgeblieben beziehungsweise politisch ahnungslos – das schien sich bisher auszuschließen. Aber wie diese Feuilletonwoche gezeigt hat, wird das unvereinbare Entweder-oder überraschend zu einem Sowohl-als-auch verschmolzen.
"Allein im Februar soll er für drei Golfwochenenden mit der Familie knapp 10 Millionen Dollar rausgehauen haben",
schrieb Alexander Lindh im Feuilletonaufmacher der TAGESZEITUNG über Donald Trump. Das Problem: Der TAZ-Autor, ein überzeugter Linker, spielt selbst leidenschaftlich Golf, das "Spiel der Bonzen", wie er offen bekannte. Deshalb folgt Lindhs Plädoyer, aus dem Entweder (Linker) und dem Oder (Golfspieler) ein Sowohl-als-auch zu machen. Zur Ehrenrettung seiner selbst. Dabei scheint das groß abgedruckte Foto zu helfen, das Che Guevara auf dem Green zeigt.
Erdoğans Pyrrhus-Sieg
"Wenn Erdoğan einen Erfolg verzeichnen kann, dann den, das Land zwischen seinen Anhängern und Gegnern zwiegespalten zu haben, genau wie Trump Amerika",
schrieb Can Dündar in der ZEIT mit Blick auf die Volksabstimmung zur Verfassungsreform in der Türkei und sprach von einem Pyrrhus-Sieg für Erdoğan:
"Er hatte alle Neinsager als Terroristen bezichtigt, es muss ihm gehörig die Laune verdorben haben, zu sehen, dass das halbe Land aus 'Terroristen' besteht." Das sind dann – sagt nicht Dündar, lässt sich aber leicht überschlagen und weiterspinnen – ungefähr 40 Millionen "Terroristen" in der Türkei. Wenn man jeden von denen, wie Gefährder in Deutschland, rund um die Uhr überwachen wollte, bräuchte man 25 Polizisten pro "Terrorist", also insgesamt eine Milliarde Zivilfahnder. Da die ihre Arbeit wohl kaum ehrenamtlich machen würden, wäre das auch für Sultan Erdoğan unbezahlbar. Da ist es dann wohl auch ratsam, nicht länger am Sowohl-als-auch von demokratieliebenden Wählern und Terroristen festzuhalten.
Nachdenken über Frankreich
Der Blick der Feuilletonisten dieser Woche schwenkte aber ganz schnell von der Türkei nach Europa, von der Volksabstimmung zur Präsidentschaftswahl in Frankreich. "Das Zulassen der Differenz sollte einmal die Grundüberzeugung von Europa sein, von den Samen bis zu den Sizilianern, der Stolz auf das Verschiedene. Jetzt sind wir auf ein Niveau abgesunken, wo nur noch Konkurrenz, Neid und Ressentiment herrschen",
schrieb Autor und Ex-Verleger Michael Krüger in der ZEIT und verabschiedete sich schon mal von "la douce France", dem süßen, sanften Frankreich. 20 Schriftsteller und Intellektuelle schilderten ihre Sorgen und dachten darüber nach, ob mit dem möglichen Sieg der ausländerfeindlichen Marine Le Pen "das Projekt Europa vor dem Aus" steht. "Ein Sieg Le Pens wäre das Ende Frankreichs, wie wir es gekannt haben", mutmaßte der Philosoph Peter Sloterdijk und prophezeite für den Fall einen Todeskampf des Landes:
"Gewisse Zuckungen würden beweisen, dass das Leben irgendwie weitergeht, wie verworren auch immer. Vermutlich würde das Land auf Jahre hinaus unregierbar werden."
Jürgen Habermas zeigte sich entsetzt von der Ressentiment gesteuerten, "völlig irren 'Los von Brüssel'-Parole" von Le Pen und anderen Rechtspopulisten, warnte aber zugleich:
"Ein 'Weiter so' mit demokratisch entmündigten Völkern, die über ökonomische Anreize zur Ordnung gerufen werden, besiegelt den Zerfall."
Martin Walser sieht im Kandidaten Emmanuel Macron einen möglichen "Helden" und schrieb, ebenfalls in der ZEIT:
"Macron hat eine Biografie, die wir Deutschen nur mit Bewunderung und Neid erleben können".
Damit meinte er allerdings nicht die Tatsache, dass Macron seine 24 Jahre ältere Französisch-Lehrerin geheiratet hat, worüber wiederum Jürg Altwegg gerne informierte, nicht in der "Gala", sondern in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. "Das dritte Geschlecht in der französischen Politik heißt Emmanuel Macron", schrieb Altwegg. "Er ist weder links noch rechts, aber sowohl als auch." Der Journalist wies darauf hin, dass Emmanuel Macrons Vorname genauso ausgesprochen wird wie die weibliche Version desselben Namens, und erinnerte daran, wie Nicolas Sarkozy seinen Gegner Macron definiert hat, nämlich indem auch er behauptete, aus einem Entweder-oder sei ein Sowohl-als-auch geworden:
"Ein bisschen Mann. Ein bisschen Frau. Das ist die neue Mode. Androgyn."
Schauspieler interpretieren Sargnagel
"Ich will keine erwachsene Frau sein, mehr eine Mischung aus kleinem Mädchen und fettem Hooligan", heißt es in einem Text von Stefanie Sargnagel, der nun in Wien im Rahmen einer Theaterinszenierung von Schauspielern interpretiert wurde. Sargnagel ist "eine Schul- und Hochschulabbrecherin, eine Beislhockerin und Dosenbiertrinkerin" und Bloggerin, schreibt Tobias Becker im neuen SPIEGEL und erwähnt dann, dass sie beim letzten Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis erhalten hat. Ingeborg Bachmann und Dosenbier also doch kein Widerspruch. Becker lobt den Theaterabend, weist allerdings auf ein Sowohl-als-auch hin, das Stefanie Sargnagel offensichtlich noch als Entweder-oder erscheint, nämlich entweder authentisch und integer oder aber erfolgreich zu sein:
"Sie hadert im Text damit, plötzlich als Lohn- und Auftragsschreiberin gefragt zu sein, weil das ihr die Energie raube, die sie 'eigentlich zum Rumhängen und Nichtstun benötigen würde', sie sieht es gar nicht ein, sich durch ihren plötzlichen Erfolg ihr bislang so herrlich kaputtes Leben kaputt machen zu lassen."