Alles dreht sich um den Film
In Cannes beginnen heute die Filmfestspiele. Auch wenn dort am Morgen vor der Eröffnung noch nichts passiert ist, müssen die Feuilletons berichten. Aufmerksamkeitsheischerei, meint Hans von Trotha.
Am Tag vor Beginn eines der großen Filmfestivals ist ebendieses in den Feuilletons als Aufmacher gesetzt, obwohl es noch gar nichts zu berichten gibt. Man könnte dies als Aufmerksamkeitsheischerei geißeln, einer Art Leitthema des Feuilletontages, wozu passen würde, dass schon in den Überschriften eine kriegerische Lage ausgerufen wird. Während die FAZ fragt: "Rückzugsgefecht oder Gegenoffensive?", ruft die SÜDDEUTSCHE den "Kampf um die Zukunft des Kinos" aus, der TAGESSPIEGEL vermeldet eine "Hochburg unter Beschuss" und die NZZ einen bedrängten "Kaiser der Croisette".
Cannes in der Krise?
Nur die TAZ heischt nach Aufmerksamkeit, indem sie sich dem Ritual verweigert und statt mit einem Ausblick auf das Festival von Cannes mit Eindrücken vom Festival Femua in Abidjan an der Côte d’Ivoire aufmacht. Die Überschrift "Visionen, Ideen und hohe Zinsen" ließe sich auch auf Cannes münzen, bekommt aber einen anderen Schlag mit Julian Webers Information, dass "'hohe Zinsen' im ivorischen Französisch (im Gegensatz zum Canneschen Französisch) als Bezeichnung für Geschäftsleute verwendet wird. "…hohe Zinsen mit Geschäftsideen", so Julian Weber weiter, "braucht Côte d’Ivoire dringend." – Cannes womöglich auch. Das drückt sich dort aber tatsächlich in einem ganz anderen Französisch aus.
In der SÜDDEUTSCHEN klinkt David Steinitz Cannes immerhin klug in die sich mühlenartig durchs laufende Jahr fräsende Erinnerungskultur ein, in der listigerweise '68 direkt auf Marx folgt. "Wer sich in dieser Situation für Montagen und Großaufnahmen interessiert", schrie (demnach) der Regisseur Jean-Luc Godard im Mai 1968 ins Publikum des Festivalpalastes von Cannes, "der ist wirklich ein Idiot!" "Das Ergebnis", so Steinitz: "eine Beinahe-Saalschlacht und das vorzeitige Ende des Festivals."
Ob sich in Paris am Wochenende genügend wütende Cineasten warmgelaufen haben, um sich der Aufmerksamkeitsheischerei zu bedienen, die so ein Festivalabbruch böte? Wohl eher nicht. Es ist ja 18, nicht mehr 68. Als damals "die Filmfestspiele von Cannes ausgerechnet mit einer restaurierten Fassung von "Vom Winde verweht" eröffneten, platzte den jungen Filmemachern der Kragen. Wie um alles in der Welt, dachten Godard und Konsorten, könne man sich jetzt im Frack amerikanische Schnulzenklassiker anschauen, während die Regierung macht, was sie will, und die Studenten auf die Straße gehen?"
Bleibt zu hoffen, dass die Festivalleitung angesichts der Macron-Proteste nicht etwa ein Napoleon-Epos programmiert hat. Und wenn – selbst wenn die Preisverleihung in Cannes abgesagt würde, läge das nur im Trend. Darauf weist Doris Akrap in der TAZ hin:
Die Absage als Demonstration der Empathie
"Der Echo, der Literaturnobelpreis, der Audi-Sport-ABT-TT-Cup, das Istanbul-Derby, der Frühschoppen der Halveraner Handwerker, Bushidos Black Friday Tour, die Nazi-Demo in Göttingen, die Physik-Abi-Prüfung in Sachsen-Anhalt, die MDR-Radio-Sendung "Darf man heute noch Neger sagen?", Ralph Hasenhüttl den Bayern, Prinz Harry seine Flitterwochen: Die Absage liegt im Trend", schreibt Akrap. "Früher", analysiert sie, "wurde Absagen mindestens als Zeichen ungewollter Schwäche, wenn nicht gleich als totale Kapitulation bewertet. Heute wird in brenzligen Situationen – jedenfalls gefühlt – immer seltener zu Durchhalteparolen gegriffen. Das Mittel der Absage soll Empathie demonstrieren."
Akraps Grund, sich mit der von ihr so genannten "Absageritis" zu beschäftigen, ist die Absage einer Gedenkstunde zum 25. Jahrestag des rassistischen Mordanschlags auf die Familie Genç in Solingen. Akrap fragt, ob führende Politiker hierzulande "25 Jahre nach dem Mordanschlag … schon wieder (Zitat von damals) "weiß Gott andere wichtige Termine" (hätten)? So wie seinerzeit Helmut Kohl, der seine Teilnahme an der Trauerfeier für die Mordopfer in Solingen laut seines Sprechers mit dieser Begründung ablehnte, dass er für (wieder Zitat) "Beileidstourismus" nicht zu haben sei?"
Aufmerksamkeitshascherei und -heischerei
Was uns, abgesehen von der Bodenlosigkeit dieser Formulierung angesichts des Anlasses, wieder einmal daran erinnert, wie giftig Kohl sein konnte. Während uns David Steinitz in der SÜDDEUTSCHEN daran erinnert, wie giftig Francois Truffaut sein konnte. Nachdem der sich mit Jean-Luc Godard überworfen und dieser ihm Mangel an politischem Engagement vorgeworfen hatte, prangerte Truffaut Godards, so Steinitz, "Aufmerksamkeitshascherei" an, und zwar mit den Worten, Godard sei "die Ursula Andress der Militanz".
Das waren halt noch Zeiten. Da wurden Konfrontationen nicht nur nicht abgesagt, sondern so ausgetragen, dass es sich nach 50 Jahren noch lohnt, sie zu zitieren.