Aus den Feuilletons

Angriff auf die offene Gesellschaft

Menschen gedenken (13.6) in Orlando der Opfer des Terroranschlags.
In Orlando gedenken Menschen der Opfer des Anschlags auf den queeren Nachtklub "Pulse". © AFP PHOTO/Mandel Ngan
Von Hans von Trotha |
Kann man den Massenmord von Orlando einordnen? Martin Reichert schreibt in der "Taz": Der Attentäter habe einen Schutzraum angegriffen in einer Gesellschaft, die Minderheiten akzeptieren wolle, anstatt sie bloß zu tolerieren.
"Es gibt keinen privaten Hass", stellt Jürgen Kaube in der FAZ fest und erklärt:
"Zwischen Affekt und Massenmord klafft ein weiter Abgrund. Der IS überbrückt ihn, indem ihm jede Katastrophe recht ist, solange sie nur dem Westen schadet und ihn radikalisiert."
"Gemeint waren wir", titelt denn auch die TAZ. Martin Reichert meint:
"Der Anschlag in Orlando war ein Angriff auf einen Schutzraum" und "ein Anschlag auf die offene Gesellschaft, auf Menschen, die Minderheiten Luft zum Atmen geben möchten, sie akzeptieren, anstatt sie bloß zu tolerieren."
In der FAZ führt Jürgen Kaube aus:
"Als die Nachricht vom Massaker im amerikanischen Orlando sich verbreitet hatte, kam die Frage nach dem Motiv des Täters in einer seltsamen Form auf: Gefragt wurde, ob er aus Hass gegen Homosexuelle oder aus radikalislamistischen Motiven gehandelt habe. ... Seltsam war die Frage, weil bekannt ist, wie die Anhänger des sogenannten Islamischen Staats nicht nur über Homosexuelle denken, sondern auch, was sie mit ihnen machen, wenn sie ihrer habhaft werden. Von einem persönlichen Hass des Mörders auf Homosexuelle zu sprechen, unterschätzt darum das Problem. Hass auf Gruppen ist selten rein persönlich; er kommt jedenfalls nicht ohne Weltbilder aus."

Bilderstreit mit der Uefa

Weltbilder – das sind die Bilder, die Menschen von der Welt haben. Und die werden allerorten suggestiv manipuliert. Man glaube bloß nicht, das Bild etwa, das uns das Fernsehen von der EM vorsetzt, sei das Bild von der Welt. Es ist das Bild von der Uefa.
"Ich sehe was, was du nicht siehst", titelt der TAGESSPIEGEL angesichts einer Meldung, die Michael Hanfeld in der FAZ so kommentiert:
"Prügelnde russische Hooligans, die im Stadion von Marseille auf englische Fans losgehen? Ein kroatischer Flitzer, der auf den Rasen stürmt, vorbei an Ordnern und Sicherheitsleuten? Wird nicht gezeigt. Das gibt kein gutes Bild ab vom Milliarden-Unternehmen Euro 2016. Ist das nicht Zensur? ARD und ZDF sind mit der Bildauswahl nicht zufrieden und haben Beschwerde bei der Uefa eingelegt. Die nämlich ist vertraglich gehalten, 'alle relevanten und die Öffentlichkeit interessierenden Bilder anzubieten'. Die Uefa sagt klipp und klar: 'Wir wollen nicht, dass Szenen von Gewalt im Fernsehen zu sehen sind.' Also gibt es sie auch nicht zu sehen, zumindest solange das Spiel läuft und die Uefa die Bildregie führt."

Obszönitäten verhindern Zitierung

Während die Uefa also verhindern will, dass wir schlimme Bilder sehen, wollen immer mehr Nutzer sozialer Medien verhindern, dass sie in von ihnen als schlimm erachteten Medien mit ihren Posts zitiert werden. Ein Hardcore-Problem, für das es, scheint's, nur eine Hardcore-Lösung gibt. Sie lautet, bitte hören Sie jetzt weg: "fuckincuntbuggerinarse".
Der Reihe nach. Matthias Heine berichtet in der WELT:
"Ein Teil der 'Recherche' von Journalisten besteht heute darin, zu suchen, ob sich in den sozialen Netzwerken oder in öffentlichen Foren jemand zu dem Thema geäußert hat, über das sie schreiben. ... (Die) Möglichkeit der Verweigerung gibt es in der digitalen Öffentlichkeit nicht. Deshalb hat eine Nutzerin der britischen Eltern-Webseite 'Mumsnet' jetzt zu einer sehr radikalen Maßnahme gegriffen. Um nicht mehr von der 'Daily Mail' zitiert zu werden, änderte sie ihren Usernamen in eine vierfache Obszönität. Die Dame nennt sich jetzt 'fuckincuntbuggerinarse', was wir hier lieber nicht übersetzen wollen, denn wir sind fast genauso schamhaft und etepetete wie die 'Daily Mail'. Der Name sei ihr auf dem Heimweg eingefallen, ihr Humor sei etwas kindisch, gesteht die Userin in einem Diskussionsthread mit der Überschrift 'Fucking quote me now you bastards'."
Was sich Heine sogar in der WELT zu übersetzen traut, und zwar mit einem gewagten:
"Zitiert mich jetzt mal, verfickt, ihr Bastarde".
Eine Leidensgenossin von "Fuckincuntbuggerinarse" rät, so Heine weiter, "Botschaften überhaupt nur noch in obszönen Worten zu verfassen, sodass es den Forenfledderern von der 'Mail' irgendwann einfach zu viel Arbeit sein wird, alle Sauereien herauszukürzen oder durch Sternchen zu ersetzen."
So wie die Uefa Schläger und Flitzer durch die gelben Sternchen der Europaflagge ersetzt. Statt uns zu zeigen, wie es wirklich aussieht in der Welt. Auch, gerade auch in diesen Tagen.
Mehr zum Thema