Aus den Feuilletons

Angstlust beim Starren auf die Katastrophe

04:21 Minuten
Szene aus dem Kinofilm "Outbreak" mit Cuba Gooding Jr., Kevin Spacey und Dustin Hoffman.
Szene aus dem Kinofilm "Outbreak" von 1995 mit Cuba Gooding Jr., Kevin Spacey und Dustin Hoffman. © imago images / Warner Bros. / Mary Evans
Von Arno Orzessek |
Audio herunterladen
In der Viruskrise lechzten viele Menschen nach Seuchenfilmen. Klassiker wie "Outbreak" und "Contagion" hätten Hochkonjunktur, schreibt die "SZ". Der Trost dieser Filme liegt womöglich darin, dass deren fiktive Rettungsmaßnahmen funktionieren.
Wenn Sie einverstanden sind, mäandern wir zunächst durch die virusfreien Zonen der Feuilletons.
Unter der Überschrift "Der Vulkan brodelt, das Magma des Unmuts steigt auf" fragt sich Thomas Assheuer in der Wochenzeitung DIE ZEIT, "warum ehemalige DDR-Autoren wie Uwe Tellkamp die kritische Öffentlichkeit verachten". Tellkamp, der Autor des gefeierten Vorwende-Romans "Der Turm", publiziert mittlerweile "im geistigen Umfeld der völkischen Rechten", wie DIE ZEIT betont.
Folgt man Assheuer, liegt Tellkamps Entscheidung ein Macht- und Bedeutungsverlust zugrunde:
"Während in der DDR schon ein falsches Wort genügte, um das Regime zu erschüttern, hat sich der Liberalismus strukturell gegen ästhetische Wahrheiten abgedichtet. Der Kunsttheoretiker Boris Groys hat diesen Unterschied auf den Punkt gebracht: Während im Kapitalismus 'die Sprache nur eine Ware ist, die sich auf dem Markt behaupten muss', sei sie im Kommunismus 'das alles beherrschende Medium' gewesen. 'Die grausamen Philosophenstaaten des Ostens bewachten die Sprache ihrer Bürger akribisch. Jeder Satz war von Gewicht, ganz anders als im Westen, wo zwar die Freiheit des Wortes gewährleistet war, aber um den Preis weitgehender Machtlosigkeit von Literatur und Philosophie.'"
Ein Zitat von Boris Groys in einem ZEIT-Artikel von Thomas Assheuer.

Geschichtsbewusstsein Ost gegen West

Was im geistigen Osten Deutschlands los ist, dafür interessiert sich auch die Wochenzeitung DER FREITAG.
"Tragischerweise scheint die ostdeutsche Identitätsfindung 30 Jahre nach der friedlichen Revolution das einzige Projekt, das von antagonistischen politischen Lagern gemeinsam betrieben wird", beobachten Fabian Bechtle und Leon Kahane. "Es herrscht Konkurrenz darüber, wer die Deutungshoheit über den ostdeutschen Opfermythos hat. Den einen gilt Ostdeutschland als das deutschere Deutschland – den anderen als das solidarischere. Das Ostdeutsche wird dabei von beiden als Antithese zum Westen beansprucht", heißt es im FREITAG.
Und im Westen? Im Westen Berlins liegt die Praxis von Peter Lutz, einem Zahnarzt mit einer klaren Ansage, die in der TAGESZEITUNG Überschrift wurde: "Es gibt keine schwulen Zähne, aber es gibt Patienten mit besonderen Bedürfnissen." Deshalb behandelt Lutz queere und HIV-positive Patienten, denen in anderen Praxen oft die Tür gewiesen wird. Näheres dazu in der TAZ.

Verunsicherung der Ich-hab’s-im-Griff-Typen

Arzt, Praxis, positive Patienten. Wir haben ein Wortumfeld erreicht, in dem sich auch das aktuelle Virus tummelt. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG verweist die Psychologin Jule Specht auf eine Studie, die besagt: In einschneidend negativen Lebenssituationen geht es oft den Menschen besser, die schon vorher nicht glaubten, alles kontrollieren zu können. Heißt umgekehrt: Die Corona-Krise macht möglicherweise den Ich-hab’s-im-Griff-Typen am meisten zu schaffen. Soweit unsere Paraphrase. Jule Specht selbst äußert sich im FAZ-Interview leider umständlicher.
Über "Erste Hilfe aus dem Kino" denkt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG nach: "Ausgerechnet in der Viruskrise lechzen viele Menschen nach Seuchenfilmen, Klassiker wie 'Outbreak' und 'Contagion' haben Hochkonjunktur. Warum eigentlich?" Kathleen Hildebrand benennt selbst einige Gründe, darunter die Angstlust, aber auch der Trost, der in fiktiv funktionierenden Rettungsmaßnahmen liegt. Weitere Antworten überlässt die SZ-Autorin der Kulturwissenschaftlerin Eva Horn:
"Horn erklärt die Wirkung katastrophischer Szenarien einerseits als alarmistisch – sie weisen auf Gefahren hin, machen sie anschaulich und können so aktivieren, mindestens zum Händewaschen. Andererseits beschreibt sie sie mit dem Konzept der Interpassivität: Man delegiert durch die Fiktion eines Films oder eines Romans das Handeln an jemand anderen, einen Filmhelden wie den Familienvater, der die Seuche überlebt. 'Das Starren auf die Katastrophe' schreibt Horn, entlaste von der schwierigen Aufgabe, angesichts der Katastrophe zu handeln."
Das war’s. Bliebe zu hoffen, dass die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG nicht komplett falsch liegt mit der forschen These: "Am Ende wird alles besser."
Mehr zum Thema