Aus den Feuilletons

Ausgehen als Bürgerpflicht

Ein Paar steht am Abend engumschlungen auf der Straße. Um sie herum stehen viele weitere Menschen.
Menschen trauern nach den Anschlägen von Paris vor dem Restaurant Le Carillon. © AFP PHOTO / MARTIN BUREAU
Von Tobias Wenzel |
Die Attentäter von Paris hätten auf den Kern der westlichen Kultur gezielt, schreibt Claudius Seidl in der "FAS". Wenn Menschen ermordet werden, bloß weil sie in Cafés sitzen oder ein Konzert besuchen, empfiehlt er als Reaktion: Ausgehen als erste Bürgerpflicht.
"Hauptstadt der Unzucht und Laster", so heißt es über Paris in dem Schreiben, in dem sich, wie es scheint, der Islamische Staat zu den Anschlägen in der französischen Hauptstadt bekennt.
"Wenn Menschen ermordet werden, bloß weil sie ausgehen, in Cafés und Restaurants sitzen, ein Konzert oder ein Fußballspiel besuchen, dann geht es um den Kern der westlichen Kultur",
schreibt Claudius Seidl in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Wie aber soll man diese Kultur verteidigen?
"Das Ressentiment passt nicht ins Pariser Café, wo jedes Argument mit einem Gegenargument rechnen muss; Überwachungskameras und allgegenwärtige Polizisten wären das Dementi der Freiheit, die dort herrscht",
urteilt Seidl und empfiehlt eine ganz andere Reaktion, nämlich die, sich mutig weiter zu vergnügen:
"In dieser Lage ist auszugehen die erste Bürgerpflicht."
Bemerkenswerte Hilfsaktionen
In derselben Zeitung berichtet Harald Staun über eine bemerkenswerte Aktion von Parisern im Internet:
"Auf Twitter verbreitete sich der Hashtag #PorteOuverte, unter dem Menschen ihre Adresse veröffentlichten und eine Einladung an alle aussprachen, die im Pariser Ausnahmezustand herumirrten, sich in ihren Wohnungen in Sicherheit zu bringen."
U-Bahnen und Taxis seien nämlich plötzlich nicht mehr gefahren. Mit Blick auf diese Aktion der offenen Arme schreibt Staun abschließend:
"Die Attentate auf Paris waren auch ein Anschlag auf Europa. In dieser Nacht konnte man sehen, dass es nicht totzukriegen ist."
Europa als Werte- oder Wirtschaftsgemeinschaft?
Noch vor den Pariser Anschlägen blickte auch Wolf Lepenies nach Frankreich, sah aber schwarz für Europa. In der WELT erinnerte er an die "sakrale Gründungsrhetorik" der EU-Väter. So hätten Robert Schuman und Charles de Gaulle bei dem Gedanken an ein vereintes Europas von einer "Kathedrale" gesprochen.
Und wenn nun, gerade in der Flüchtlingskrise, die "Wertegemeinschaft" der EU beschworen werde, dann sei das nur die weltliche Variante dieser christlichen Rhetorik. Und die entlarvte Lepenies dann. Dahinter würden sich nämlich wirtschaftliche Interessen verbergen. So habe de Gaulle Europa vor allem als Absatzmarkt für die überschüssige Produktion französischer Agrarprodukte nutzen wollen. Das Fazit des Autors:
"Schmerzhaft deutlich wird (...), dass das vereinte Europa keineswegs zu einer Wertegemeinschaft geworden ist, sondern ein Zweckbündnis geblieben ist, in dem im Krisenfall die einzelnen Länder ihre nationalen Ziele verfolgen. Das vereinte Europa: eine Kathedrale? Vielmehr ein von Egoismen getriebener Markt der Interessen."
Apropos Egoismen:
"Kein Land in Europa weist so entschieden und mit solcher Unterstützung durch die Bevölkerung Flüchtlinge ab wie die Tschechische Republik",
schrieb Claus Leggewie in der FAZ, erinnerte daran, dass nach der Niederschlagung des Prager Frühlings ungefähr 300.000 Tschechen ins Ausland geflohen und dort in der Regel freundlich aufgenommen worden seien, und gab ein Beispiel dafür, wie die Tschechen heute Flüchtlinge und Migranten behandeln würden:
"Jonathan aus Ghana, der seit gut einem Jahr in Prag Landwirtschaft studiert, erzählt, er habe vor allem in den Städten so gut wie nie ein freundliches Gesicht zu sehen bekommen, und auf dem Land werde er fotografiert wie ein exotisches Tier."
Studie über "Deutsche Zustände"
Und wie erginge es Jonathan aus Ghana wohl in Deutschland, in Dresden zum Beispiel? War da nicht mal etwas mit einem weltoffenen Land, das durch den Fußball international Sympathien gewann?
"Das Sommermärchen war in Wahrheit ein veritabler Albtraum",
schrieb Andreas Rüttenauer in der TAZ, und zwar unabhängig von der Frage, ob die Fußball-WM 2006 gekauft wurde oder nicht. Rüttenauer zitierte aus einer von Erziehungswissenschaftlern erhobenen Langzeitstudie namens "Deutsche Zustände". Demnach sei es rund um diese WM "zu einer Zunahme 'gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit' gekommen". Schlussfolgerung des TAZ-Autors:
"Dass heute sorgenvolle Pegidisten ganz unverkrampft neben Nazi-Kadern stehen und 'Wir sind das Volk!' in den Abendhimmel grölen, hat eine Vorgeschichte. Ohne die Jubelberichte über das tolle Deutschland und seine tollen Deutschen mit diesen tollen deutschen Fahnen, die das Land während der WM 2006 überschwemmten, würde heute vielleicht nicht ganz so ungeniert gedeutschtümelt."
Glücklicherweise hat Alem Grabovac bei diesem Thema noch nicht seinen Humor verloren. Für die TAZ stellte er ein ABC der deutschen Leitkultur zusammen, um Flüchtlingen Orientierung zu bieten. Unter X wie "Xenophobie" schrieb Grabovac:
"Bis vor Kurzem haben zwei junge Männer und eine junge Frau mit Vorliebe türkischstämmige Muslime abgeknallt. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Die zwei jungen Männer sind tot und die junge Frau sitzt im Knast."
Nachrufe auf Helmut Schmidt
"Redakteurinnen begegnete er (...)] mit eher anthropologischem Interesse", schrieb Michael Naumann zum Tod von Helmut Schmidt, wobei er sich auf dessen Wirken als Publizist bei der Wochenzeitung "Die Zeit" konzentrierte. "Er wusste, wie Geschichte gemacht wurde – und von wem", schrieb Naumann in der FAZ, um dann auch auf die Auseinandersetzungen zwischen der Redaktion und dem Alt-Kanzler mit seinen manchmal "eisig" wirkenden "realpolitischen Argumenten" einzugehen:
"Dem Geopolitiker Schmidt, der in großen historischen Zusammenhängen dachte, konnten Hinweise auf die Unmenschlichkeit des chinesischen Regimes oder russischer Machtprojektionen nur naiv erscheinen."
Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller lobte in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG Vernunft und Verstand Helmut Schmidts. Die hätten sich in den vom Volk so geschätzten Sprüchen gezeigt wie: "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."
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