"Berlin ist eine Frontstadt der digitalen Konflikte"
In der Kulturpresseschau geht es unter anderem um Berlin als bedeutende Internet-Stadt, um "die Geschichte der ersten sexuellen Revolution" und um ein Ausstellung anlässlich des 100. Geburtstages von Arno Schmidt.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG stellt per Überschrift eine Frage, die unter die Gürtellinie zielt. Sie lautet:
"Wann wurde der Geschlechtsverkehr erfunden?"
FAZ-Autorin Gina Thomas rezensiert „Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution" aus der Tastatur von Faramerz Dabhoilwala.
Dem britischen Historiker zufolge begann die Karriere des modernen Geschlechtsverkehrs unter vielerlei pikanten Umständen zwischen 1600 und 1800 und zumal in England.
Diese sexuelle Revolution sei indessen "ein weitgehend ungeordneter und unbewusster Prozess" gewesen, zitiert Thomas aus dem Buch Dabhoilwalas ...
Das sie ganz prima findet, wie auch der seufzende Untertitel "Als die Lust endlich erwachsen wurde" andeutet. -
Wenn es um Sex geht, ist es immer leicht, zu Michel Foucault überzuleiten, dem Autor nicht zuletzt von "Sexualität und Wahrheit".
Unter dem Titel "Es sind seine Gedanken, die immer noch glänzen" erinnert Ulf Poschardt in der Tageszeitung DIE WELT an den französischen Philosophen, Historiker und Soziologen, der vor 30 Jahren gestorben ist.
"[Foucault] selbst liebte es, sich zu widersprechen und alles noch einmal neu zu denken. Zuerst weg vom Menschen, hin zur Struktur, am Ende wieder weg von der Struktur hin zur Selbstfindung des Subjekts. [...] Foucault nahm Drogen und lebte seine sexuellen Phantasien wohl aus [...]. Sein Glatzkopf-eckige Brille-enger Anzug-Style wurde prägend für mehrere Generationen von Intellektuellen, seine Texte bleiben eine Herausforderung. [...] Sie gehen eigentlich gegen jede Form banaler Gewissheit vor. Sie sind Röntgenbilder unserer Zeit."
So WELT-Autor Poschardt.
In der TAGESZEITUNG berichtet Tanja Martini von ihrer Frankreich-Reise auf den Spuren Foucaults.
Eine Madame Sillard aus Poitiers, der Geburtsstadt Foucaults, überraschte Martini mit der These, Foucault sei „‚diabolischer'" als etwa Karl Marx – was die TAZ-Autorin ins Grübeln bringt:
"[Diabolischer] Wegen seiner Homosexualität? Oder wegen seiner HIV-Infektion? Ist es die Verknüpfung von Sex und Tod? Aids ist immer noch ein Tabuthema, Foucault war einer der Ersten, der 1984 mit 57 Jahren daran starb. Den schönen Ruf, diabolisch zu sein, verdankt er [aber] vor allem seinem Schaffen.
Grenzüberschreitend und zersetzend – das sind die häufigsten Attribute für sein Denken. Die Existenzphilosophie, die Phänomenologie, der französische Hegelianismus, die Psychoanalyse – für diese großen Theorieströmungen [...] war er wie ätzende Säure. Mit allen gleichzeitig hatte er den Kampf aufgenommen, weil er der Erzählung vom souverän handelnden Subjekt endgültig den Boden entzog",
referiert Tanja Martini in der TAZ.
Wer noch mehr zum Umgang der Menschen mit ihrem Körper lesen will, dem sei der Artikel „Die verlorene Scham" in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG empfohlen.
Oliver Pfohlmann rezensiert Ulrich Greiners "Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur" und lobt, dass sich die Studie „von der Standartthese der Kulturkritik [distanziert], die je eigene Epoche sei der Höhepunkt der Schamlosigkeit".
Viel Aufmerksamkeit widmen die Feuilletons der Technologie-Konferenzreihe TED, die im Silicon Valley erdacht wurde und dieses Mal im Berliner Admiralspalast stattfand.
"Berlin ist eine Frontstadt der digitalen Konflikte", dramatisiert Andrian Kreye in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG.
"Es ist eben kein Zufall, dass Julian Assange die Anfänge von Wikileaks in Berlin programmierte, dass NSA-Whistleblower Edward Snowden hier sehr viel lieber leben würde als in Moskau; dass seine Weggefährtin Laura Poitras hier lebt, genauso wie der Kryptografie-Pionier Jacob Appelbaum"...
Und so weiter und so fort im SZ-Text des Berlin-Vermarkters Kreye.
Die BERLINER ZEITUNG zerfleddert hingegen eine Haupt-Botschaft der TED-Konferenz – „‚Die meisten Dinge werden besser'" – und lästert:
„Die Aussagekraft ist gleich null, aber es stellt sich das TED-Gefühl ein. Das Gefühl, dass es vorangeht. Der Admiralspalast jubelt." -
Das Schlusswort hat heute Arno Schmidt, den die SZ aus Anlass einer Celler Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag wie folgt zitiert:
"'Wenn ich tot bin, mir soll mal Einer mit Auferstehung oder so kommen: Ich hau ihm Eine rein!'"