Aus den Feuilletons

"Bier sind wir"

Verschiedene Bierflaschen der Brauerei Shmaltz sind im Jüdischen Museum in München in der Ausstellung "Bier ist der Wein dieses Landes. Jüdische Braugeschichten" zu sehen.
Verschiedene Bierflaschen der Brauerei Shmaltz sind im Jüdischen Museum in München in der Ausstellung "Bier ist der Wein dieses Landes. Jüdische Braugeschichten" zu sehen. © dpa / picture alliance / Sven Hoppe
Von Arno Orzessek  |
Anlässlich des 500-jährigen Jubiläums des Reinheitsgebots bespricht die NZZ zwei Ausstellungen in München über die Bierkultur. Sie stellen dar, wie das "bayerische Nationalgetränk" die Stadt formte.
Es gibt ja Tage, an denen der Zeitgeist im Feuilleton Striptease tanzt und man der Gegenwart gierig auf die nackte Haut blickt. Heute ist keiner dieser Tage. Was den Vorteil hat, dass wir mal in aller Ruhe durch Ausstellungen schweifen können - sie beanspruchen viel Platz im Feuilleton.
"Bier sind wir" reimt, knapp diesseits der Genialitätsgrenze, die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, in der Judith Leister ihren Artikel mit einer jahreszeitlichen Reflexion beginnt.
"Der Sommer naht, und bald wird man wieder junge Männer in T-Shirts mit der Aufschrift ‚Bier formte diesen Körper‘ sehen. Die Tatsache, dass die Bierkultur auch den Stadtkörper formte, ist Gegenstand von zwei Ausstellungen in München. Anlass ist das 500-Jahre-Jubiläum des bayrischen Reinheitsgebots."
So – nämlich flott, überraschend, informativ – kann man mal einen Artikel beginnen, finden wir…
Und ähnlich gut in Gang kommt übrigens auch Matthias Heine in der Tageszeitung DIE WELT unter dem Titel "Bitte sagen Sie jetzt nichts!"
"Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen. Wovon man nicht sprechen will, davon muss man schwafeln. Nach dieser Devise handelt die Weltbank zunehmend, haben zwei Wissenschaftler aus Frankreich und den USA herausgefunden."
Auf die linguistischen Einzelheiten müssen wir hier verzichten…
Aber grundsätzlich funktioniert der "Bank-Sprech", wie ihn der Historiker Dominique Pestre und der Literaturwissenschaftler Franco Moretti in Analogie zum "‚Neusprech‘" in George Orwells Dystopie "1984" nennt, nach diesem Muster:
"Es gibt keinen Hunger mehr, nur Probleme der Nahrungsmittelsicherheit."
Indessen hatten wir uns ja zu Ausstellungsbesuchen verabredet…
Unter dem Titel "Klebriger Hass" sondiert die TAGESZEITUNG die antisemitischen und rassistischen Aufkleber, die das Deutsche Historische Museum in Berlin in der Ausstellung "Angezettelt" zeigt:
"Man kann sich wahlweise von organisierten Antisemiten im späten 19. Jahrhundert anekeln lassen, vom Kolonialrassismus des Kaiserreichs, von NSDAP-Propaganda der Jahre 1925 bis 1945 oder davon, wie nach 1945 das Feindbild des verarmten Juden dem Motiv eines ‚Profiteurs des Holocaust‘ weichen musste. Es folgen der dumpfe Rassismus von NPD, DVU und dem ‚Ring nationaler Frauen‘ in den Achtzigern und die Antiflüchtlingsslogans ‚Nein zum Heim‘ und ‚Refugees not welcome‘ der Gegenwart."
Ernster noch als "Angezettelt" ist die neu gestaltete Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte auf dem Weimarer Ettersberg.
WELT-Autorin Barbara Möller erklärt unter dem Titel "Stunde null in Buchenwald" das Besondere des Projekts.
"Die neue Dauerausstellung […] ist konsequent. Sie setzt nichts voraus. Selbst ein Alien könnte – vorausgesetzt, es wäre fähig und willens zu lesen – begreifen, was Buchenwald war."
Nach der Lektüre der ersten Basis-Informationen fühlt sich Barbara Möller "gleich mal ein bisschen gekränkt".
"[Nein] Sehr sogar. Hat man nicht als Schülerin tagelang im Majdanek-Prozess gesessen? Ist man nicht in [den Mordstätten] Lidice und Oradour gewesen? Hat man nicht die Eltern auf dem heißen Stuhl geröstet und so gut wie alle Augenzeugenberichte gelesen? Aber diese Kränkung hält nicht lange an, wenn man erkennt, was die Ausstellung bietet: den Rundumblick durch einen nationalsozialistischen Mikrokosmos [nämlich Weimar], der Pars pro Toto steht."
Am Ende ist Barbara Möller fix und fertig und hält fest: "Draußen staunt man, dass die Sonne in dieser Welt noch scheinen kann."
Freude an selbiger Welt bekundet unterdessen die Überschrift "Das sind ja ganz neue Birken und Moore!", unter der die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG "Mythos Heimat" vorstellt…
Eine Ausstellung im Sprengelmuseum Hannover über Künstlerkolonien.
Allerdings artikuliert sich Tilman Spreckelsens bei aller Kennerschaft derart sachlich-trocken, dass wir froh sind, gar nicht mehr nach einem aussagekräftigen Zitat suchen zu müssen.
Denn unsere Zeit ist um.
Im übrigen hoffen wir, dass unsere nächste Kulturpresseschau wieder auf einen jener Tage trifft, an denen der Zeitgeist im Feuilleton Striptease tanzt.
In diesem Sinne: Tschüss!
Mehr zum Thema