Billige Gesten auf der Buchmesse
Der Geist der Willkommenskultur weht auch auf der Leipziger Buchmesse. "Für das Wort und die Freiheit" will sie eintreten, berichten die Feuilletons. Doch vor der Freiheit steht für viele Flüchtlinge noch immer das nackte Überleben.
"Mut, der nichts kostet, ist keiner", schreibt Joachim Güntner in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG und spielt auf eine Aktion an, deren Zeuge er während des Eröffnungsaktes der Leipziger Buchmesse wurde. "Nach Reden im Geiste der Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen, gegen Rassismus und für ein unabhängiges Buch- und Pressewesen als Garant der Meinungsvielfalt erfolgte der Appell ans Publikum, aufzustehen und die ausgelegten Pappschilder hochzuhalten." Darauf habe der Slogan "Für das Wort und die Freiheit" gestanden. "Alle gehorchten, denn wer möchte schon als Freiheitsfeind dasitzen, nur weil er die Geste billig findet?", fragt Joachim Güntner in der NZZ.
Umso lächerlicher kommt ihm diese Aktion vor, nachdem er, ebenfalls auf der Buchmesse, gehört hat, was der ORF-Korrespondent in Ägypten, Karim El-Gawhary, über eine Mutter erzählt hat, "die nach der Havarie eines Flüchtlingsschiffes im Mittelmeer treibt, für sich und ihre drei Kinder nur eine Schwimmweste hat und sich entscheiden muss, zwei Töchter ertrinken zu lassen."
Erschreckende Aussagen von Müttern über ihre Kinder
"Ich könnte vollkommen auf sie verzichten. Wirklich. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken", sagt eine andere Mutter über ihre Kinder, wie man von Edo Reents in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erfährt. Die Aussage einer weiteren Mutter: "Wenn ein kleiner Kobold käme und mich fragen würde: 'Soll ich sie wegnehmen, als ob nichts geschehen wäre?', würde ich ohne zu zögern 'Ja' sagen." Die israelische Soziologin Orna Donath hat 23 Mütter befragt. Reents verstören und verärgern diese Äußerungen und die daraus entstandene Debatte über Frauen, die ihre Mutterschaft bereuen.
"Ein Kind, das man lieber nicht hätte und das man wegwünscht aus dieser Welt. Man muss nicht selbst eins haben, um eine solche Wunschvorstellung beunruhigend zu finden", schreibt er. "Aber statt Mütter, die so reden, direkt beim Jugendamt zu verpfeifen, ermuntert Donath ihre Gesprächspartnerinnen eher noch dazu."
Wer es bereut, Kinder zu haben, hätte sich das vorher überlegen sollen, findet Reents. Sein Fazit in der FAZ:
"Es ist nicht das erste Mal, dass Dünnbrettbohrerei etwas hervorgebracht hat, was manche Leute für eine ‚Debatte‘ halten. Aber diesmal ist es deswegen so empörend, weil es deutlich zu Lasten derer geht, die von ihr ausgeschlossen sind. Was ist, wenn die Kinder die absurden Statements eines Tages zu Gesicht bekommen?"
Das Schlagzeug und sein kleines Geschwisterchen
Einen Traumberuf für viele Kinder hatte früher Lee "Scratch" Perry: Baggerfahrer. Diese Tätigkeit scheint die Karriere des jamaikanischen Musikers angestoßen zu haben, erfährt man von Harald Peters, der über ihn in der WELT schreibt:
"Gebannt lauscht er den Klängen des Gerölls und erklärt später: 'Alles, was ich über Musik weiß, lehrten mich die Steine.'"
Es folgt eine "Hymne" von Peters auf den Vater des ersten Reggae-Songs und den "Erfinder des Samplings". Hymnisch auch Dietmar Dath. Tief holt er Luft, um dann in der FAZ zu schreiben:
"Bevor Taschencomputer und Stöpselkopfhörer das Wissen darüber ganz vertrieben haben, wie das ist, wenn aus einem riesengroßen Lautsprecher ein Schlagzeug sein Geschwisterchen, das Menschenherz, zum Tanzen auffordert, während der Bass als sprechender Blutkreislauf eines Engels das Gehör verflüssigt, bis es sich für einen Gesichts- und Geschmackssinn hält, der Leuchten und Süße wahrnimmt, wo Fülle und Tiefe sind – bevor das alles Geschichte wird, weil die Leute nur noch Medien benutzen, die das Großerlebnis Musik zum Nebengeräusch verniedlichen, sollte man sich dem Schaffen von Lee ‚Scratch‘ Perry noch einmal rückhaltlos ausliefern. Man erlebt dann die einzige Spielart der köstlichen Lähmung 'Klangrausch', die zugleich Entrückung ist und weder jemanden überwältigen, noch irgendetwas Ausgedachtes verherrlichen will."