Bringt Covid-19 eine alternative Gesellschaft?
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Angesichts des grenzüberschreitenden Coronavirus träumt die "Welt" von einem damit verbundenen Aufbruch in eine Gesellschaft jenseits der Nationalstaaten: Eine Welt, die sich künftig durch globale Solidarität und Kooperation auszeichnet.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG fragt Andreas Platthaus anspielungsreich, wie es um das "Lesen in den Zeiten von Corona" steht. Immerhin sollen die Leipziger Buchmesse und die Lit.Cologne nach heutigem Stand stattfinden. Aber bis dahin erscheinen noch viele Feuilletons.
Vielleicht liegt es ja daran, dass es gegen Covid-19 noch keinen Impfstoff gibt, dass sich die Feuilletons der thematischen Tröpfcheninfektion nicht erwehren können. Wobei aus den Tröpfchen auch mal Wellen, in manchen Blättern sogar Ströme werden. Das Virus ist allumfassend, zumal es nicht nur biologisch nachweisbar ist, sondern auch metaphorisch dehnbar – und wie.
Slavoj Žižek weist in der WELT darauf hin, dass "in den vergangenen Jahrzehnten die Begriffe 'Virus' und 'viral' meist zur Bezeichnung digitaler Viren verwendet wurden. Was wir jetzt sehen, ist eine massive Rückkehr zur ursprünglichen wörtlichen Bedeutung des Begriffs: Virusinfektionen arbeiten Hand in Hand in beiden Dimensionen, real und virtuell."
Covid-19 als Ende der Vorurteile
Zum Clash von realem und metaphorischem Virus kommt es offenbar gerade in England, beziehungsweise in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, wo A.L. Kennedy ihre wöchentliche Brexit-Kolumne unter dem Titel "Das Virus der Wirklichkeit" mit den Worten beginnt:
"Darf ich Ihnen zunächst mal gratulieren, Menschen in Deutschland? Sie haben die Verbindung zwischen gewalttätiger Rhetorik und physischer Gewalt schnell wiederhergestellt, und die (in Anführungszeichen) 'Alternative' für Ihre Zukunft scheint auf dem Rückzug. Unsere aktuelle Regierung ist durch einen endlosen Strom gut verbreiteter Lügen ins Amt gespült worden, aber Covid-19 könnte ihr Ende bedeuten. Vielleicht wird der Kontrast zwischen Fakten und Fiktionen doch zu scharf, wenn man keine Ausländer mehr beschuldigen kann."
A.L. Kennedy schreibt auch: "Wie die Wirklichkeit interessiert das Virus sich nicht für rassistische Fantasien oder Wunschdenken. Und inzwischen fragen wir uns, ob wir unsere Notvorräte für den Brexit aufsparen sollen oder sie zu Notvorräten für die Selbstisolierung deklarieren sollen."
Der Metaphorik der Notbevorratung geht Heiko Werning in der TAZ in einer kleinen Kulturgeschichte des Hamsterns nach, wobei er feststellt: "Das Hamstern steht nicht gerade im besten Ruf." Also, Vorsicht beim Kauf von mehreren Nudelpaketen und schon gar von Atemschutzmasken – aber die sind eh ausverkauft.
Slavoj Žižek fordert uns auf, nicht davor zurückzuschrecken, "eine potenziell günstige Nebenwirkung der Epidemien zu bemerken: Eines der Symbolbilder der Epidemien sind Passagiere, die auf großen Kreuzfahrtschiffen gefangen (unter Quarantäne gestellt) werden – ein gutes Mittel, um uns von der Obszönität solcher Schiffe zu befreien, bin ich versucht zu sagen. Die Autoproduktion ist ernsthaft betroffen: Gut, das kann uns zwingen, über Alternativen zu unserer Besessenheit mit Individualfahrzeugen nachzudenken."
Hoffnung auf ein segensreiches ideologisches Virus
Überhaupt schwingt eine Menge Hoffnung mit, wenn Žižek seine Corona-Virus-Analyse in der WELT mit "Das Ende der Welt, wie wir sie kennen" überschreibt. "Vielleicht wird sich ein anderes, viel segensreicheres ideologisches Virus ausbreiten und uns hoffentlich auch anstecken: das Virus, eine alternative Gesellschaft zu denken, eine Gesellschaft jenseits der Nationalstaaten, eine Gesellschaft, die sich in globaler Solidarität und Kooperation verwirklicht."
Den anrührendsten Text zum Thema bringt der TAGESSPIEGEL. Es ist der Brief eines Mailänder Lehrers an seine Schüler. Er zitiert Bocaccio und Alessandro Manzoni und erzählt von der Pest.
"Liebe Schüler, 'nichts Neues unter der Sonne' liegt mir da auf der Zunge. Aber angesichts unserer geschlossenen Schule muss ich reden. Allgemein ist das größte Risiko in solchen Situationen die Vergiftung des gesellschaftlichen Lebens, der menschlichen Beziehungen, die Barbarisierung des zivilen Umgangs. Es ist ein urzeitlicher Instinkt bei einem unsichtbaren Feind, ihn überall zu vermuten. Anders als während der Epidemien des 14. und 17. Jahrhunderts haben wir heute die moderne Medizin an unserer Seite. Glaubt mir, das ist nicht wenig. Benutzen wir unsere Vernunft, der wir auch diese Medizin verdanken, um das Kostbarste zu erhalten, das wir haben: unser soziales Gewebe, unsere Menschlichkeit. Sollten wir das nicht schaffen, hätte die Pest in der Tat gewonnen. Ich warte auf euch in der Schule."