Castorfs Revolution am Berliner Ensemble
Frank Castorfs siebenstündige Inszenierung von Victor Hugos "Les Misérables" am Berliner Ensemble verleitet die Kritiker zu Fressattacken und empfängt sie im Fegefeuer. Auch der Glyphosat-Alleingang von Agrarminister Christian Schmidt bewegt die Feuilletons von morgen.
"Wenn man nachts um drei nach siebeneinhalb Stunden erschöpft zu Hause ist, greift man erst mal in den Kühlschrank, zur kapitalen Stärkung nach so viel Klassenkampf. Es war leider nur Wurst und Käse da, der Comandante wäre stolz auf mich gewesen."
Jan Küveler schreibt das in der WELT mit Blick auf Frank Castorf und dessen die Revolution feiernde Inszenierung von Victor Hugos "Die Elenden" am Berliner Ensemble. Damit hat der ehemalige Intendant der Berliner Volksbühne schon mal eines geschafft: dass ein Theaterkritiker Einblick in seinen Kühlschrank gibt.
"Wenn die Aufführung weit nach Mitternacht in ihre siebte Stunde geht und sich die Erzählung längst ins Delirium aufgelöst hat, ist man im vertrauten Castorf-Purgatorium angelangt",
schreibt Peter Laudenbach, vermutlich direkt aus dem Fegefeuer, in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und fragt:
"Ist Castorfs Kunst der Abschied vom vertrauten Ensemble also gut bekommen? Ehrliche Antwort: Jein."
Die traditionelle Castorf-Backmischung
In den ersten Stunden sah der Kritiker immerhin "eine umwerfende, oft verblüffende Aufführung", mit einem herausragenden Schauspieler Jürgen Holtz.
"Witzwüste Wortspiele, zuckelnde Live-Videoübertragung, gebrochene Revolutionsromantik – ‚Was die Welt antreibt, sind keine Eisenbahnen, sondern Gedanken‘ – die traditionelle Castorf-Backmischung",
schreibt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Simon Strauß, der sah, dass viele Zuschauer vor Ablauf der siebeneinhalb Stunden gegangen sind:
"Ein früheres Ende hätte der Inszenierung gutgetan, aber sicher auch den sportlichen Ehrgeiz vieler Castorf-Jünger enttäuscht. Folglich präsentiert der Regisseur gnadenlos eine zweiten Teil, der die Verbliebenen wohl mürbemachen soll, damit sie sich für die Revolutionsbotschaft empfänglich zeigen."
Ob die Revolutionsbotschaft in Castorfs Inszenierung wohl Martin Aust, einem Bonner Historiker, gefallen oder ob sie ihm ähnliche Bauchschmerzen bereitet hätte wie das Lesen der Texte von Kollege Timothy Snyder von der Yale University? Der sehe die Demokratie durch Donald Trump gefährdet und engagiere sich für die Ukraine, vermenge allerdings die Geschichtswissenschaft mit seinem Aktivismus, urteilt Martin Aust in der FAZ. So behaupte Snyder in seiner Monographie "Black Earth", der Holocaust könne sich wiederholen. Und zwar vermutlich in China. Aust sieht da eine Grenze überschritten:
Wiederholung des Holocaust in China?
"Historiker gelten gemeinhin als Experten der Vergangenheit, die Vorsicht und Zurückhaltung bei Aussagen über die Zukunft walten lassen sollten. ‚Black Earth‘ ist ein eindringliches Beispiel dafür, wie das Orientierungsvermögen von Geschichtswissenschaft überstrapaziert wird und in Phantastik umschlägt."
Schlimmer noch: Timothy Snyder habe im Juni 2017 auf Einladung der Grünen-Fraktion des Bundestags den Vortrag "Mitten in Europa. Deutschlands historische Verantwortung für die Ukraine" gehalten und behauptet, die Eroberung der Ukraine sei das Hauptkriegsziel Hitlers gewesen. Das, so Martin Aust, sei schlicht falsch:
"Um der Ukraine zu ihrem verdienten Platz in der deutschen Aufmerksamkeit zu verhelfen, hat Snyder in seinem Referat die Geschichte des Zweiten Weltkriegs ukrainisch zurechtgebogen."
Damit habe Snyder "der Rettung der Rationalität, Zivilität und Demokratie im Namen aufgeklärter Wissenschaft einen Bärendienst" erwiesen.
So wie Christian Schmidt seiner Partei:
"Agrarminister Schmidt hat im Alleingang der Verlängerung des Pestizid-Einsatzes in der EU-Kommission für weitere fünf Jahre zugestimmt – und sagt nun, man habe mit dieser Zustimmung ‚mehr erreicht als mit einer Enthaltung‘. Was meint er bloß?",
fragt die TAZ. Und Berufssatiriker Friedrich Küppersbusch antwortet:
"Sich. In der dritten Person: So isser, der Schmidt. […] Hübsch der Move von SPD-Raubautz Kahrs: Im Gegenzug soll’s ein besseres Arbeitszeitgesetz geben. Das ist neue Transparenz: […] hier Mülldeponie, dort Fahrradweg – das ist Politik. Ein schmutziges Geschäft, und wo es stattfindet, wächst kein Gras mehr. Wenn doch: Glyphosat drüber."