Aus den Feuilletons

Das Sterben der Europäer in fünf Schritten

Eine zerrisssene Europaflage an einem Fahnenmast.
Eine zerrisssene Europaflage an einem Fahnenmast. © picture alliance / dpa / Jen Kalaene
Von Paul Stänner · 16.12.2016
Die Psyche von Sterbenden nähert sich in fünf Schritten dem Tod. Die "Welt" wendet diese Erkenntnisse auf die Europäer an. Es beginne mit der Phase der Leugnung. Am weitesten sei Joschka Fischer gekommen, er habe den Tod der westlichen Welt schon akzeptiert.
Liebe Hörerinnen, liebe Hörer – wir steigen ein ins Wochenende. Das Wetter ist feucht und klamm, die Wohnung ist warm, also sitzen wir zuhause und folgen dem guten Tucholsky: Wir denkeln vor uns hin. Worüber?
Zum Beispiel über den Tagungsbericht von Paul Ingendaay in der FAZ. Der hat dem niederländischen Kunsthistoriker Robin van den Akker zugehört, wie er die postfaktischen Verhältnisse unter den niederländischen Populisten beschrieb und forderte, den schlichten Parolen von rechts einen Populismus von links entgegen zu setzen. Man brauche Emotion, und man müsse auch wieder von "Nation" und "Führer" sprechen dürfen. Ingendaay, früher in Madrid, jetzt in Berlin, hält dagegen mit einem Plädoyer für die politische Mitte, denn es…
"… lehren die Geschichte der Weimarer Republik, aber auch die Radikalisierung Spaniens vor dem Bürgerkrieg, dass die gewaltsame Entladung politischer Konflikte wahrscheinlicher wird, wenn das Zentrum sich ausdünnt und moderate Positionen keine parlamentarische Vertretung mehr finden."

Sterbende in der Verhandlungsphase

Ähnlich kämpferisch klingt Alan Posener in der WELT. Er beruft sich auf die Psychologin Elisabeth Kübler-Ross, die beschrieben hat, wie sich die Psyche von Sterbenden in fünf Schritten dem Tod annähert. Ihre Erkenntnisse wendet er auf die Europäer an.
Leugnung ist die erste Stufe, hier sieht Posener sich selbst, denn lange habe er den Populisten Alexander Gauland für einen Ehrenmann und Donald Trump für einen Clown gehalten. Später tritt der Sterbende in die Verhandlungsphase, in der er alles Mögliche verspricht, wenn nur weiterleben dürfe: Auf dieser Ebene sieht Posener viele Politiker – wenn sie nicht schon eine Stufe weiter seien, in der Phase der Depression, wenn alles sinnlos erscheint. Am weitesten sei Joschka Fischer gekommen, denn der sei schon in der Phase der Akzeptanz, weil er verkündet habe, "dass die westliche Welt vor unser aller Augen sterben werde."
Posener listet auf, warum Europa und die USA unverzichtbar seien in Wirtschaft, Sicherheit, sozialer Elastizität und will das auch in komplizierten Zeiten nicht aufgeben:
"Politik sei das Bohren dicker Bretter, sagte einmal Max Weber. Etwas, das die Populisten aller Lager notorisch und Kapitulanten aus dem eigenen Lager offensichtlich nicht so gut können."
Joschka Fischer hat jetzt Stoff zum Nachdenken.

Rettung durch Schönheit?

"Es hat nichts mit dem Aussehen zu tun, sondern mit einer gewissen Haltung, einem gewissen Stil."
Hannah Lühmann schreibt in der WELT begeistert von der Protagonistin in Catherine Meurisses Graphic Novel "Die Leichtigkeit", also von Meurisse selbst. Die Zeichnerin hatte an dem Morgen, als Terroristen ihr Blatt "Charlie Hebdo" überfielen, verschlafen. So überlebte sie. Meurisse hat in ihren Zeichnungen ihren Weg aus dem Schock zurück in die Welt beschrieben. "Vor allem erzählt sie", schreibt Lühmann, "beiläufig, durch Stimmungen, Notizen, Witze, Anmerkungen, von der Freundschaft, von der Leichtigkeit und dem, was auch noch traurig sein kann, von der Liebe.".
Für die SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG hat Alex Rühle die Zeichnerin getroffen und berichtet davon, wie ihr Alter Ego durch Museen eilt, um in der Schönheit Heilung zu suchen. Rettung durch Schönheit? "Genau dies ist das Thema ihres Buchs", schreibt Rühle.
Ist das Gedankenstoff für das vierte Adventswochenende? In der Novel verschwindet Meurisse' Alter Ego in der Museumswand, dort, wo Edvard Munchs "Der Schrei" hängt. Manchmal reicht auch ein Bild.
Die TAZ hat für ihre Rubrik "Stolz und Vorurteil" die österreichische Poetry-Slam-Meisterin Lisa Eckhart nach ihrem Vorurteil gefragt. Die Antwort:
"Früher hatte ich das Vorurteil, Bildung züchte zwangsläufig bessere Menschen. In Wahrheit bildet sie oftmals lediglich die rhetorische Raffinesse, sich als solche zu verkaufen."
Da gibt es nichts zu denken, da hat sie einfach recht.
Und wir, liebe Hörerinnen, liebe Hörer, haben unser Wochenende.
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