Der Nestbeschmutzer als moralische Instanz
Ein Literaturstar der deutschen Sprache wird 80 Jahre und wird in den Feuilletons gefeiert: der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg. "Verkehrtherum ist für ihn das Richtige", so beschreibt ihn die "FAZ". Der "Tagesspiegel" wundert sich, dass ihn die Rolle des Nestors der schweizerischen Identität nicht anödet.
"Es geht jetzt um Edward Snowden". Wenn man diese Schlagzeile liest, weiß man gleich, in welchem Feuilleton man sich befindet. In der FAZ geht es da fast immer um Edward Snowden, wenn es nicht um Google geht. Und geht es nicht auch irgendwie um Snowden, wenn es um Google geht oder umgekehrt? Meistens geht es in der FAZ eh um beides. Stefan Schulz bespricht Glenn Greenwalds Buch über den Fall Snowden und fragt: "Werden wir der Überwachung überhaupt noch entkommen?"
Entkämen wir ihr, hätte das FAZ-Feuilleton seine Funktion fast schon auf jene Debatte reduziert, in der das FAZ-Feuilleton auf das FAZ-Feuilleton antwortet, seit Springer-Chef Döpfner hier seine Angst vor Google geschildert hat. Diesmal darf EU-Wettbewerbskommissar Joaquín Almunia unter der Überschrift "Ich diszipliniere Google" dem "sehr geehrten Herrn Döpfner" "mit den besten Grüßen" widersprechen. Reden Leute wie Alumnia und Döpfner wirklich über das FAZ-Feuilleton miteinander? Ist es das, was sie uns sagen wollen?
Chinesische Marken ohne Charisma
Schlimmer noch als Google, weiß dieselbe FAZ, wird das chinesische Internet-Handelshaus Alibaba. "Dieser Laden ist größer als Ebay und Amazon zusammen" lesen wir erschrocken und lernen, was bislang das Problem chinesischer Marken war: nämlich ein "Charismadefizit". "Viele große internationale Marken", schreibt Mark Siemons, "leben von einem ideellen Überschuss, der nicht allein aus dem unmittelbaren Produktnutzen abzuleiten ist ... Einer der Gründe dafür, dass sich chinesische Marken bislang kaum im Bewusstsein der Welt verankern konnten, ist das Fehlen dieses Überschusses: Sie verheißen, von leicht zu durchschauenden Marketingformeln abgesehen, nicht mehr als das Funktionieren ihrer Waren und Dienstleistungen."
Das Gegenteil von "Charismadefizit" wäre demnach auf dem Handelsmarkt die Schweiz. "Qualität bedeutet Qualität – die Marke Schweiz läuft auf reine Tautologie hinaus, und da sie sich gut verkauft, scheint das auch niemanden zu stören." Mit diesem Satz zitiert Katrin Hillgruber im TAGESSPIEGEL den Schriftsteller Adolf Muschg, der seinen 80. Geburtstag feiert. Sie meint: "Es ist ein Wunder, dass ... Muschg seine Rolle als Nestor der schweizerischen Identitätsdebatte immer noch nicht anödet". Die BERLINER ZEITUNG spielt den Dreiklang "Dichterfürst, Nestbeschmutzer, moralische Instanz". Lothar Müller wagt in der SÜDDEUTSCHEN die Behauptung: "In seinen Büchern ist die Schweiz nie mit sich selbst allein", und die FAZ titelt, nicht weniger kühn: "Verkehrtherum ist für ihn das Richtige".
Die Rebellion der Halbstarken
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG springt die Meldung ins Auge: "Mit seinen Geschichten und Romanen feierte er Welterfolge, heute ist er hierzulande fast vergessen". Das kann ja nicht Muschg sein. Ist es auch nicht. Gemeint ist vielmehr der vor hundert Jahren geborene Gregor von Rezzori, der, so erzählt Markus Bauer, "mit seinen vielfach aufgelegten Maghrebinischen Geschichten der auf Vergessen angelegten Nachkriegsgesellschaft Westdeutschlands den Humor zurückbrachte. Rezzori soll", so Bauer, "bei einem Fernsehauftritt über das Phänomen der Rebellion der 'Halbstarken´ gegen alle zeitgenössischen Aufregungen geätzt haben, dass, was immer man in Deutschland mit der Jugend anstelle, ihre Bestimmung doch im Massengrab liege. Woraufhin der Moderator mit einem knappen 'Also gute Nacht´ die Sendung abgebrochen habe." Das waren noch Zeiten.
Natürlich wird Muschg in der NZZ auch gewürdigt, sein neuer Essayband gar als "Grundbuch einer verzauberten Vernunft" geehrt. Nur die TAZ hat nichts über Muschg, aber auch die Schweiz. Es geht um den Ankauf von neuen Militärflugzeugen, obwohl die Schweiz ja so klein ist, dass man militärisches Fliegen da gar nicht üben kann, das machen sie in Texas und Schweden. Rudolf Walther weiß außerdem von einen Geheimcode, der bis 1998 in Gebrauch war: "Um Hörfehler in den lauten Kabinen zu vermeiden, entschied man sich für eine vokalreiche Sprache und wählte naheliegend das Italienische. Den Code nannte man "Bambini-Code", demzufolge hießen eigene Flugzeuge "Angeli" (Engel), fremde "Diaboli" (Teufel). "Bambini" (Kinder) bedeutete "an alle" und "Vitamine" ("Verstärkung"). Mit "Ritorno Casino" verabschiedeten sich Piloten auf die Ausgangsbasis und mit "Campari" zum Auftanken."
In diesem Sinne: "Ritorno Casino Campari."