Aus den Feuilletons

Der Ostler und das Sellerieproblem

Teilnehmer einer Demonstration des Bündnisses Patriotischer Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes (Pegida) sind am Montagabend (22.12.14) auf dem Theaterplatz in Dresden versammelt.
Pegida Demonstration in Dresden © imago/Robert Michael
Von Tobias Wenzel · 01.01.2015
Auch die Feuilletons können nicht anders als der Rest der Medien: Sie schleppen die alten Themen mit ins neue Jahr: z. B. "Pegida". So versucht in der "Welt" der Religionswissenschaftler Jack Miles Pegida mit dem Erbe der DDR zu erklären. Und für Alan Posener ist es noch ein bisschen einfacher.
"Nur die Leibwächter von Frau Merkel haben mal wieder nicht richtig zugehört", schreibt Musikkritikerin Eleonore Büning in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Während die meisten Menschen am späten Silvester-Nachmittag "draußen unterwegs" gewesen seien, "um es krachen zu lassen", habe sie begeistert ferngesehen. Und zwar die Live-Übertragung des Silvesterkonzerts der Berliner Philharmoniker im Ersten. "Das Publikum reißt es am Ende aus den Sitzen", berichtet Eleonore Büning, "alle sind aus dem Häuschen vor Rührung. Fast alle." Und dann der eingangs zitierte Satz: "Nur die Leibwächter von Frau Merkel haben mal wieder nicht richtig zugehört."
Besonders angetan war die FAZ-Kritikerin von dem Mozart-Klavierkonzert und dem 91-jährigen Pianisten Menahem Pressler: "Seine Hände sind kürzer, seine Finger knotiger als die von Beethoven. Aber seine Augen leuchten himmelblau, und der Klang, den er dem Flügel entlockt, kann so kindlich klar klingen wie von einem Toy-Piano." Wolfgang Schreiber, der das Konzert für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG verfolgt hat, teilt die Begeisterung seiner Kollegin: "Pressler spielt, nein 'spricht' geradezu mit Mozarts Tönen, mit größtem Bedacht. Höhepunkt der Adagio-Satz in der romantischen Tonart fis-Moll, der den Pianisten an die Grenze zur Entrückung führt."
Religion ist ein Brauchtum
"Wissen Sie, was [Richard] Dawkins' Lieblingsmusikstück ist?", fragt der US-amerikanische Religionswissenschaftler und Pulitzer-Preisträger Jack Miles den Journalisten Hannes Stein in der WELT und gibt gleich selbst die Antwort: "'Mache dich, mein Herze, rein, ich will Jesus selbst begraben' aus der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach." Der atheistische Evolutionsbiologe Dawkins habe im Übrigen gar nichts gegen Religion als Brauchtum.
"Kann man ohne Religion eine schlüssige Moralphilosophie haben?", fragt Stein. Das glaube er schon, antwortet Miles. Und er begründet dies mit Untersuchungen an Schimpansen, die sicher nicht religiös seien, aber sehr wohl "Vorformen von Moral" besäßen, von einem Sinn für Gerechtigkeit: "Wenn Sie hundert Schimpansen ein Stück Sellerie geben, wird jeder sehr froh seinen Sellerie kauen. Wenn Sie aber einem Schimpansen ein Stück Sellerie geben und dem Schimpansen im Käfig nebenan eine Banane, dann empört das den Schimpansen mit dem Sellerie, und er rüttelt an den Gitterstäben. Es gibt etwas in uns, das Solidarität begründet, auch einen Sinn für Wahrhaftigkeit. Moral ist uns ganz gewiss angeboren."
Und dann gibt der Religionswissenschaftler, animiert vom Journalisten der WELT, auch noch seine Einschätzung der Pegida-Bewegung ab: "Ich glaube nicht, dass die Ostdeutschen jemals wirklich den internationalen Kommunismus als Ersatz für das Christentum oder den deutschen Nationalismus akzeptiert haben. Mir scheint, sie haben den deutschen Nationalismus beibehalten – nur verschoben sie ihn auf die DDR."
Früher war alles besser
Links neben diesem Interview macht sich in der WELT auch Alan Posener seine Gedanken zu Pegida: "In Dresden, scheint es, trauert man der DDR hinterher, als alle Arbeit hatten und die Fidschis ihren Platz in der Gesellschaft kannten, nämlich unten, und man sich aushalf [...]. Heute hingegen: Hetze, Konkurrenz, soziale Kälte, Islamisierung und eine Lügenpresse. Da wusste man, selbst im 'Tal der Tränen', wo es kein Westfernsehen gab, woran man war."
Aber selbst der Ärger mit Pegida sei in zwanzig oder dreißig Jahren vergessen. Denn alles, was zwanzig bis dreißig Jahre zurückliege, erscheine den Menschen als die "gute alte Zeit". Selbst wenn es damals Kriege gegeben habe. "Was auch kommt, für eine bestimmte Alterskohorte wird es schlechter sein als das, was in ihrer Kindheit war", schreibt Posener schließlich. "Wir Menschen sind ja evolutionär nicht für den Fortschritt gemacht. Schon das Rad war eine Zumutung. In diesem Sinne: Alles Gute für 2015!"
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