Der Ruhrpott im Wandel
Wird das Proletarische zur Folklore für Revolutionsnostalgiker? Dieser Frage widmet sich die "FAZ". Lenkt also die Ruhtriennale von real existierenden prekären Verhältnissen ab? Und lenken die politischen Vorwürfe gegen Stepanie Carp von der dargebotenen Kunst ab?
"Abschaffen, einfach abschaffen", lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, und in Verbindung mit dem Wort Ruhrtriennale ist klar, was Manuel Brug in der WELT empfiehlt. Zunächst rekapituliert er kurz die Geschichte der 1947 gegründeten Ruhrfestspiele, die von 2002 an "zum Kulturfanal des Strukturwandels der Region" werden sollten – mit einem Dreijahresetat von 41 Millionen Euro.
Aber, schreibt er, "die Ruhrtriennale hat ihren Auftrag längst erfüllt. Nach Mortier kamen die Intendanten Jürgen Flimm, Willy Decker, Heiner Goebbels und Johan Simons immer mehr in der üblichen Festspielroutine an. Die Lokalpolitiker haben ihren Partyspaß gehabt. Und all die stillgelegten Hallen zwischen Bochum, Essen, Gladbeck, Duisburg, Dinslaken, Bottrop und Mülheim sind längst wieder ertüchtigt."
Anlass der ganzen Betrachtung ist natürlich das ungeschickte Agieren der gegenwärtigen Intendantin Stefanie Carp, die sich mit der Ein-, Aus- und Wiedereinladung einer israelfeindlichen Popgruppe in die Nesseln gesetzt hat. Doch ein Rausschmiss von Stefanie Carp würde wenig bringen, meint Brug: "Die hat ihre nächsten zwei Spielzeiten längst fertig, Absagen würden sehr teuer, ihre Künstler, allen voran Christoph Marthaler, würden mächtig Radau machen."
Nachhaltigkeit geht anders
Das ist eben, wie Brug erläutert, ein Nebeneffekt des Dreijahresturnus. Deswegen ist in seinen Augen die Ruhrtriennale "nicht nur rhythmisch unsinnig, sie muss die Hälfte ihres Etats für die Infrastruktur ausgeben. Nachhaltigkeit geht anders. Dieses Geld wäre bei Opernhäusern, Theatern, Museen, Stadtteilinitiativen viel willkommener."
Der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG ist zu entnehmen, was außerdem aufhören soll im Ruhrgebiet. Zwei Doktoranden im Fach Geschichtswissenschaft am Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum fordern nämlich, wir sollten damit aufhören, die schönen Erfolgsgeschichten von der Verwandlung des dreckigen Kohlepotts in ein Eldorado von Hightech und Kreativkultur weiterzuerzählen.
Die beiden Autoren betrachten diesen Transformationsprozess, zu dem so etwas wie die Ruhrtriennale ja ganz wesentlich gehört, mit offensichtlichem Widerwillen. Sie beklagen, dass anspruchsvolle Theateraufführungen "professionelle Theatergänger" anziehen, was natürlich nach Elite riecht und "Exklusion" erzeugt.
Folklore für Revolutionsnostalgiker
"Das Proletarische wird zur Folklore für Revolutionsnostalgiker mit akademischer Bildung", heißt es in diesem Text, den die einst bürgerliche FAZ veröffentlicht. Ein Beispiel für den höhnischen Duktus dieses Artikels:
"Je schmutziger, je körperlicher, je anstrengender die schwerindustrielle Arbeit der Vergangenheit erscheint, desto heller glänzt die Zukunft der kreativen Arbeitsräume vollverglaster Büros – selbstredend in ehemaligen Industrieanlagen. Und die Beschwörung von Solidarität und Kameradschaft in der Bergarbeit eignet sich wunderbar als Ornament, das von den prekären Verhältnissen der Kultur- und Kreativwirtschaft ablenkt",
schreiben die beiden schlechtgelaunten Geisteswissenschaftler, die sich auch über ein Bottroper Modelabel ereifern, das T-Shirts für 50 Euro verkauft. So ein Geschäft aufzuziehen, nützt dem postindustriellen Ruhrpott aber vielleicht mehr als das akademische Wortgeorgel im Feuilleton der FAZ.
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG lesen wir: "Zu Unrecht steht die Ballade im Ruf, der Vergangenheit zugewandt zu sein."
Der Satz hat es in sich, er leitet einen Artikel von Lothar Müller über Theodor Fontanes Gedicht "Die Brück’ am Tay" ein. Es handelt vom Einsturz einer Eisenbahnbrücke in Schottland am 28. Dezember 1879, bei dem 75 Menschen ums Leben kamen.
Fontane und der Brückeneinsturz in Genua
"Generationen von Schulkindern haben Fontanes Ballade auswendig gelernt, auch den berühmten Refrain ihres Hexengesangs: 'Tand, Tand / Ist das Gebilde von Menschenhand.' Er setzt ein Kernmotiv der Fortschrittskepsis ins Bild, die Deutung des Unfalls als Quittung für die Hybris moderner Technik."
Ganz falsch ist die Deutung ja nicht, wie wir mit Blick auf die Katastrophe von Genua erkennen. Vor allem, wenn die Hybris in Nachlässigkeit und Ignoranz besteht. Auch bei der Brück‘ am Tay hatte man über technische Vorzeichen des Unfalls hinweggesehen.