Der überpinselte Liebesgott
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Das berühmte Gemälde "Brieflesendes Mädchen" von Jan Vermeer van Delft wird restauriert. Und was kommt dabei zum Vorschein? Ein ehemals übermalter Cupido, ein Liebesgott! "Aufregender ist forensische Kunstwissenschaft selten gewesen", jubelt die "Welt".
"Unsere Gesellschaft infantilisiert." Das ist schnell so daher gesagt oder aber in der Tageszeitung DIE WELT von Peter Huth aufgeschrieben und begründet. Er outet sich als 50-Jähriger, der verstehen will:
"2019 ist also das Jahr, in dem mir klar wird, dass das Album als Konzept tot ist und die Playlist regiert, in dem ich begreife, dass die Leute nie mehr aufhören werden, Selfies zu machen und Diskussionen auch mal ohne Worte und nur in Bildchen geführt werden. Die wichtigste Erkenntnis aber ist: All das sind keine Flüchtigkeiten, keine Trends. Neue Standards sind gesetzt."
Auf die Jugend schimpfen wie einst Sokrates
Ich könnte das als albern, lächerlich, unangenehm läppisch grundsätzlich ablehnen, schreibt Huth, aber gibt er zu bedenken: "Ich stünde damit in der Tradition von Sokrates, der rund 400 Jahre vor Christus eine Wutrede auf die damalige Jugend abfeuerte."
Stattdessen schlägt er einen genaueren Blick auf die so genannte Generation Z vor: "Fiktion und Wirklichkeit werden unbedarft vermischt. Nähe ist in dieser Welt unmittelbar, alle duzen sich von der ersten Begegnung an. Zurückhaltung und Distanz gelten genauso als verdächtig wie zu große Direktheit. Die Gegenwart gehört den Computer-Kreativen, die die Welt erschaffen, in der mit Offenbarung der Persönlichkeit, also Daten, bezahlt wird."
Rohstoff Generationenkonflikt
Huths Erstaunen über die junge Generation ließe sich fortsetzen, schließlich aber kommt er zu der beruhigenden Erkenntnis: "Der Generationenkonflikt ist der verlässlichste nachwachsende Rohstoff unseres Planeten, ohne ihn keine Aufklärung, kein Fortschritt, kein Weiterkommen, keine Synthese, kein Verzeihen."
"Sensation in Dresden. Johannes Vermeer van Delft neu entdeckt" melden TAGESSPIEGEL, FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG und DIE WELT. Die FAZ fasst zusammen: "Nach dreihundert Jahren legt die Dresdner Gemäldegalerie in der "Briefleserin am offenen Fenster" einen nackten Cupido frei."
Operation am offenen Herzen
In der Tageszeitung DIE WELT malt Hans-Joachim Müller quasi ein Bild und schreibt: "Alte Gemälde zu restaurieren, ist wie Operation am offenen Herzen. Wenn Vermeers berühmte 'Briefleserin' im Jahr 2020 oder 2021 vollends aus dem Narkoseschlaf erwacht sein wird, wird man sie kaum mehr wiedererkennen."
Das Gemälde gehört zu den Spitzenwerken der Galerie Alte Meister, demzufolge haben die Dresdner die wichtigsten Vermeer-Experten weltweit aufgeboten, "um mit ihnen einen Therapieplan zu diskutieren. Eingriffiger ist kaum einmal eine Altmeister-Sanierung gewesen", meint Müller in der WELT. Und zum wieder entdeckten Cupido: "Er füllt mit seiner putzigen Verführungskunst die Leerstellen, die der Brief enthält."
Vorerst darf man spekulieren, wer und in welchem Auftrag und wann auf den mythischen Gast an der Wand hat verzichten wollen. Zitat Müller: "Aufregender ist forensische Kunstwissenschaft selten gewesen."
Fontanes Geodreieck
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG nimmt teil an den Ehrungen rund um Fontanes 200. Geburtstag. Paul Jandl informiert: "Die Stadt Neuruppin feiert ihren berühmtesten Sohn. Man kann jetzt in seine Dichterwerkstatt schauen und findet dort den Maschinisten der Sprache." Wir erfahren: "Seit dem Zweiten Weltkrieg ist das Mobiliar von Fontanes Schreibzimmer verschollen."
Erhalten hat sich aus des Dichters Besitz ein Geodreieck. Und das, so mokiert sich Jandl, sei fast ein ironischer Kommentar zu den Überzeugungen Fontanes. Der hatte postuliert: "Nur keine linealen Korrektheiten, nur nichts Symmetrisches oder Blankpoliertes."
Der Reiz alles Krummen und Schiefen
Dagegen die Feststellung des Schriftstellers, "dass alles Krumme und Schiefe, alles grotesk Durcheinandergeworfene von Jugend auf einen großen Reiz auf mich ausgeübt hat." Bekannt ist: Den Durchbruch erlebt der Autor erst als alter Mann. "Der Mühsal des schlecht bezahlten journalistischen Schreibens ist er spät entronnen", erinnert Jandl und setzt fort: "Der Mensch, das wusste Theodor Fontane, besteht aus vielem. Er baut sich Hilfskonstruktionen, um sich halbwegs durchs Leben zu schlagen. Um sich selber zu ertragen und vor allem die anderen."