Aus den Feuilletons

Die Klomusik in Cannes

Blick auf Fotografen mit ihren Kameras im Anschlag bei einem Photocall bei dem 68. Filmfestival in Cannes, am 13.5.2015
Blick auf Fotografen mit ihren Kameras im Anschlag bei einem Photocall bei dem 68. Filmfestival in Cannes, am 13.5.2015 © picture alliance / dpa / Patrice Lapoirie/Botella
Von Ulrike Timm |
Ausführlich besprechen die nur mittelprächtig gelaunten Filmkritiker, was sie beim Festival von Cannes (nicht) erlebt haben − und spekulieren natürlich, wer heute die Goldene Palme bekommt.
118 Gramm Gold sind zu vergeben − ein Gewinner aber drängt sich nicht so recht auf. Das Filmfestival von Cannes geht an diesem Wochenende zu Ende und wo es wenig wirklich Eindrucksvolles zu begucken gibt, verlagert sich der Fokus – abwärts zum Beispiel Richtung Füße. "In den besseren Tagen, die Cannes gesehen hat, hätte die Presse wohl keinen Centime für die Geschichte mit den Pfennigabsätzen gegeben. Nun aber muss man sich fragen, was die 'Siebte Kunst', wie die Franzosen stolz das Kino nennen, überhaupt noch wert ist, wenn seit Tagen über Stöckelschuhe debattiert wird. Drei Besucherinnen waren offenbar wegen zu flachen Schuhwerks des roten Teppichs verwiesen worden. Sollte das also das Frauenbild des Festivals sein, das schon vor Beginn kritisiert wurde, weil es nur zwei Regisseurinnen in den Wettbewerb einlud?", fragt die FRANKFURTER RUNDSCHAU.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG richtet den Blick nun wieder ein wenig höher – von den Füßen zum Bauch. "Zu welchen körperlichen Deformationen das konsequente Durchexerzieren französischer Lebensart führen kann, demonstriert ... der gallische Monolith Gérard Depardieu." Der ist beim Endspurt von Cannes gemeinsam mit Isabelle Huppert zu sehen, er der Koloss, sie der Strich in der Landschaft, und beider Liebe schwer auf Talfahrt. Ob dieses Team den bislang eher mittelprächtigen Eindruck des Festivals wendet? Die SÜDDEUTSCHE konzentriert sich lieber weiter auf den gallischen Monolithen Dépardieu, meint, dass seine Filme inzwischen seit Jahren wie ein perfekt sitzendes Kostüm um seinen Bauch geschneidert würden und überschreibt den Artikel kurz und knapp mit "Das große Schwabbeln".
Katja Nicodemus verlegt sich in der ZEIT gleich ganz auf das WG-Leben einer Filmkritikerin an der Croisette, um das die Pressebeschauerin sie schon etwas beneidet, auch wenn einige Petitessen stören mögen: "Auf der Damentoilette des Palais du Festival tönt aus Lautsprechern die Titelmusik von James Bond. Direkt danach der Gefangenenchor aus Verdis Nabucco", lesen wir in der ZEIT.
Wo wir nun schon bis zur Klomusik vorgedrungen sind, doch noch mal zurück zum Anlass der Chose, dem Wettbewerb um 118 g Gold, die Palme von Cannes. Die BERLINER ZEITUNG lehnt sich zumindest ein kleines bisschen aus dem Fenster, wenn auch mit hörbarem Naserümpfen: "Dem Festival Cannes wird gern unterstellt, die Goldene Palme auch nach dem Kunsteliten-Frequenzprinzip ‚Der ist jetzt dran' zu vergeben. Wenn das stimmen sollte, hat Jia Zhang-ke gute Chancen auf den Hauptpreis – ungeachtet seines wegen seiner banalen Liberalitätskritik enttäuschenden Films."
"Plansolluntererfüllung" heißt es in der WELT, allerdings nicht über Cannes, sondern über das Wettsingen um den Eurovision Song Contest, dessen poetisch-sängerischer Standard ja auch meist eher niederschwellig ausfällt und der uns doch einen stolzen Satz beschert: Australien gehört zu Europa! Das geht gut in einer multikulturellen Weltgesellschaft, und so kommt der Sänger Guy Sebastian für den ESC von Down under nach Wien...
Dante, der frechste Dichter aller Zeiten
Andere zieht es nach Florenz, und zwar die Feuilletons der NEUEN ZÜRCHER und der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG sehr ausführlich und die WELT sogar überaus ausführlich –ein seitenlanger Sonderteil! Italien feiert den 750. Geburtstag eines ganz Großen: Wer in die Hölle kommt und wer in den Himmel, das entscheidet schließlich – ER, Dante nämlich. Seine Göttliche Komödie, vielgerühmt und doch meist ungelesen, angelesen, achtel- oder halbgelesen lässt den Büchner-Preisträger Friedrich Christian Delius in der FAZ ausrufen: "Hier schreibt der frechste Dichter aller Zeiten!" Ob Himmel, Hölle oder Vorhölle – Dante sortiert eben selbst, wen er schmoren lässt und arbeitet dem Jüngsten Gericht schon mal vor. Die Päpste haben in der Göttlichen Komödie übrigens ganz schlechte Karten...„Er wollte eine neue Welt" zitiert die WELT den großen Dante -Übersetzer Kurt Flasch und wühlt sich in einem mehrere Seiten umfassenden Sonderteil geradezu lustvoll hinein in die Verwicklungen von Hölle, Vorhölle und einer Spur Paradies. "Wo bitte geht's zur Läuterung?" fragt dagegen Dirk Schümer bei einem Spaziergang durch Dantes Stadt Florenz. Hier kann man auch ein Selfie im Dantekostüm schießen und ganze Schulklassen bei ‚Beatrices Grab' Zettelchen mit Liebesschwüren abladen sehen. "Wenn zum 750. Geburtstag ein Autor immer noch zum Papp- und Popstar taugt, kann nicht alles verloren sein", lesen wir in der WELT. Franziska Meier von der Neuen Zürcher Zeitung ist beeindruckt davon, dass der italienische Nationaldichter eben nicht nur in der Schule gebüffelt und an Universitäten analysiert wird, sondern in seiner Heimat wirklich populär ist. Staunend hört sie, wie ein andächtiger Fanclub rund um den Florentiner Palazzo Vecchio Dante-Gesänge rezitiert, nicht nur Akademiker, auch Handwerker, Angestellte und Geschäftsleute sind dabei.
Wer Ihr, die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren! nicht zuverlässig auf der Pfanne hat, mag vielleicht lieber bei Shakespeare nachschlagen. Dessen Portrait wurde diese Woche entdeckt – das einzige, ultimative, lang gesuchte und diesmal wirklich ganz echte! In einem Botanikbuch des 16. Jahrhunderts nämlich, das Genie findet sich sozusagen im Schrebergarten, schwenkt Schachblume und Maiskolben und wurde identifiziert vom britischen Magazin Country Life. Hier beschäftigt man sich normalerweise mit dem englischen Landleben, ist aber überzeugt, nun den Coup gelandet zu haben und die Zeichnung Shakespeares in einem elisabethanischen Gartenmagazin aufgespürt. Und was mag er denken, der versonnen guckende, gemüseschwenkende Mann? Die WELT ist sich ganz sicher: "Mais oder nicht Mais – das ist hier die Frage." Falls Ihnen nach einer etwas weniger knittelversigen Inspiration zumute ist, schauen Sie einfach auf die Kunstmarkt-Seiten der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, da heißt es so stolz wie lapidar: "Mittelgroß ist zu klein"...
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