Die Kunst des Wissens im Internet
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Die Internet-Enzyklopädie Wikipedia wird 20 Jahre alt. Auch die Feuilletons gratulieren. "Eine Enzyklopädie für alle und ein digitales Schlachtfeld für Nerds und Besserwisser", stellt etwa die "Welt" fest.
Der 20. Geburtstag von Wikipedia ist feuilletonistische Pflicht, der jedes Blatt auf seine Weise nachkommt: "Ungleich verteiltes Wissen" bemängelt die TAZ, "Die Weisheit der Pfadfinder" erkennt der TAGESSPIEGEL, "eine Enzyklopädie für alle – und ein digitales Schlachtfeld für Nerds und Besserwisser" die WELT. Die schönste Wikipedia-Überschrift hat das FAZ-Feuilleton: "Sekundenzeiger des Weltwissens".
Die Kür der Feuilletonistinnen dagegen scheint derzeit zu sein, neue Kunstformen in Zeiten pandemischer Dürre aufzuspüren oder wenigstens alte neu zu bewerten.
Neu bewertet wird aus der Dauer-Isolation das gute alte Reality-TV. Unter der in die falsche Fährte lotsenden Überschrift "Endlich abschalten" atmet Ulrike Nimz in der SÜDDEUTSCHEN regelrecht auf: "Das Dschungelcamp startet gerade rechtzeitig". Ihr Thema: "die heilende Wirkung von Trash".
Kunst des Vergessens
"Normalerweise funktioniert Reality-TV wie ein Besäufnis mit buntem Likör", schreibt Nimz. "Man weiß, dass die Zutaten fragwürdig sind. Vielleicht wird einem etwas unwohl. Aber mein Gott, es macht Spaß und hilft zu vergessen." Doch dann kommt es: "In Zeiten erzwungener Isolation können Lagerkoller-Shows wie Big Brother oder das Dschungelcamp eine weitere Funktion erfüllen: Durch losen Wirklichkeitsbezug versorgt diese Form des Unterhaltungsfernsehens mit allem, was die Pandemie geschluckt hat: Glamour und Abenteuer (oder die Illusion davon). Menschliche Interaktion (und sei es Zoff). Die Aussicht, dass noch die absurdesten Zumutungen irgendwann ein Ende haben."
Feuilletonistische Berichterstattung über Trash gebiert ihre eigene schrille Metaphorik. Was Ulrike Nimz in der SÜDDEUTSCHEN der "bunte Likör", ist Jan Freitag im TAGESSPIEGEL die Beobachtung: "Die Herausforderung der Redaktion besteht ja eigentlich vor allem darin, aus dem trüben Teich angeblicher Berühmtheit Jahr für Jahr ein Dutzend verzweifelter Selbstdarsteller zu ziehen, deren Wiedererkennungswert zumindest ein bisschen größer ist als ihr Mangel an Scham und Ekel."
Ansonsten geht der Befund angesichts neuer Dschungelshows in dieselbe Richtung: "Im pandemischen Ausnahmezustand sind liebgewonnene Gewohnheiten bekanntlich nicht die schlechtesten Heilmittel."
Die "Impfkunst"
Eine wirklich neue Kunst hat die FAZ ausfindig gemacht: die "Impfkunst". Mit dieser Überschrift und dem in dem im Text folgenden Neologismus "Hauptimpfschübe" fügt Stefan Trinks dem derzeit stark zur Ausweitung neigenden Wortfeld rund ums Impfen zwei Einträge hinzu.
Er berichtet von Impfzentren, deren Wände mit Kunst ausgestattet wurden. "Bis" – da sind sie: "die Hauptimpfschübe erfolgen, könnte das Modell Schule gemacht haben." – "Hauptsache, mal wieder 'echte' Kunst sehen", frohlockt Trinks und verzeichnet einen coronapädagogischen Nebeneffekt: "Die Impfbereitschaft wird zur Eintrittskarte in ein Museum auf Zeit, in einer verrückten Zeit", wie er hinzufügt.
Eine neue Kunstform
Überzeitlich strahlt eine Kunstform, die nur noch nicht als solche erkannt wurde, was Julia Meidinger und David Steinitz nachholen, nicht weniger als eine neue literarische Gattung: "Das Streaming-Zeitalter hat eine neue Form der Prosa hervorgebracht", stellen sie in der SÜDDEUTSCHEN fest: "die Netflix-Inhaltsangabe."
Oft habe "man das Gefühl, die kleinen Synopsen wären von einer betrunkenen KI verfasst und dann mit Google Translate vom Armenischen zurück in die jeweilige Landessprache übersetzt worden." Aber, so die knallharte Recherche: "Eine kurze Nachfrage bei Netflix Deutschland ergibt: Nein, es handele sich um echte Menschen, die die Texte schreiben." Es folgt "Ein Best-of der schrägsten Netflix-Teaser", angeführt von: "Feuchtgebiete": "Körperhygiene ist nicht ihr Ding. Eines Tages erweist sich ein Zwischenfall beim Rasieren für sie jedoch als Segen." Gefolgt von "Hitman": "Er wurde als Auftragskiller programmiert. Doch dann weckt eine Frau in ihm den Wunsch, selbstständig zu denken ..." Immerhin versehen mit drei verheißungsvollen Punkten. Oder "Titanic": "Wenn sich ein reiches Mädchen und ein armer Charmeur auf einem todgeweihten Schiff verlieben, entsteht Filmgeschichte."
Na gut, einer noch, weil er nicht nur das neu entdeckte Literaturgenre trefflich charakterisiert, sondern auch die Standhaftigkeit in schwierigen Zeiten, also zurückführt zum Thema Trost vor den Zeiten der Hautimpfschübe: "Der schmale Grat": "Jeder Mann übersteht seine Zeit im Pazifikkrieg anders – einige kommen besser klar als andere, aber es ist nie leicht."