Die Psyche des Wladimir Putin
Mehrere Autoren versuchen die Psyche und das Weltbild von Wladimir Putin zu verstehen. Ist der russische Präsident pseudokonservativ und letztlich ohne Plan oder ein Stratege, der sich akribisch auf den eigenen Machtverlust einstellt?
"Es ist eine Schande, was da passiert ist." So zitiert die WELT Per Wästberg, den schwedischen Schriftsteller, der seit vielen Jahren der Vorsitzende des Nobelpreiskomitees ist. Raffaella de Santis hat ihn in seinem Haus in Stockholm besucht, nur kurz nachdem die Schwedische Akademie verkündet hatte, dass der Literaturnobelpreis in diesem Jahr nicht vergeben wird. Nach Berichten über sexuelle Belästigungen, finanzielle Unregelmäßigkeiten und das Ausplaudern der Namen von Preisträgern soll das Nobelpreiskomitee, das, was nach den Rücktritten davon noch übrig ist, erneuert werden.
Per Wästberg gibt zu, was andere Mitglieder der Akademie bisher abgestritten hatten, dass das Komitee nicht nur einen Verdacht hatte, sondern durchaus von den Skandalen wusste. Zum Beispiel davon, dass Namen der neuen Literaturnobelpreisträger vor der offiziellen Verkündung schon außerhalb der Akademie kursierten. "Das war definitiv bei Harold Pinter der Fall, auch bei Patrick Modiano und Le Clézio, ich denke auch bei Doris Lessing", sagt Wästberg. Auf diese Weise sei Geld gemacht worden, letztlich wohl durch Wetten auf die späteren Gewinner. Nur wer war die undichte Stelle im Komitee? "Wir hatten den Verdacht, es könnte Katarina Frostenson gewesen sein", erzählt Wästberg.
Drohungen und Diffamierungen
Was die "Vorliebe für junge Frauen" von Jean-Claude Arnault, dem Ehemann Frostensons, betreffe, sei es aber mehr als ein Verdacht gewesen: "Er war wie besessen. Er erpresste sie, indem er ihnen Ausstellungen in Kunstgalerien und ähnliches versprach." All das habe Frostenson bestritten. "Eine Lügnerin ist sie. Und er ein Krimineller", wird Wästberg, eigentlich als bedachter Gentleman bekannt, in der WELT zitiert. Frostenson und ihr Ehemann würden nun überlegen, Per Wästberg für diese Aussagen zu verklagen, berichtet Thomas Steinfeld in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und fügt hinzu: "Die Drohung erweist sich indes bislang als leer."
Ob sich Vladimir Putin bedroht fühlt und wenn ja, von wem, ist noch am Ende dieser Presseschau zu klären. Aber erst einmal, ob Putin ein Konservativer ist. Kerstin Holm zitiert in ihrem Artikel für die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG den russischen Philosophiehistoriker Alexey Zharovonkov. Er erkennt in Putins Russland (und auch in Polen, Ungarn und der Türkei) vielmehr einen "Pseudokonservatismus". Im Gegensatz zum Konservatismus reformiere der nicht mit Bedacht, sondern rechtfertige Repression mit Tradition: Charakteristisch für einen pseudokonservativen Politikstil sei die Abwesenheit eines Plans, hohe Risikobereitschaft, plötzliche Entscheidungen, sagt Zharovonkov und nennt als Beispiele Russlands Krim-Annexion, den Ukraine-Feldzug, aber auch die ständigen Novellen des Strafgesetzbuches, die Ordnungswidrigkeiten kriminalisieren und richterliche Ermessensspielräume erweitern.
Kalkuliert Putin schon einen Staatsstreich ein?
"Die Schaffung einer Putin direkt unterstellten Nationalgarde vor zwei Jahren deutet […] darauf hin, dass er mit der Option des eigenen Machtverlustes kalkuliert", interpretiert der Berliner Historiker Fabian Thunemann in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. Putins Vorsicht erscheint durchaus klug, meint man herauszulesen. In den letzten sechs Jahrzehnten seien nämlich 65 Prozent der Machthaber durch einen Staatsstreich zu Fall gebracht worden. Und das, so der Historiker, hänge wiederum mit einer gestörten Kommunikation in autoritären Systemen zusammen:
"In ihnen leidet nicht nur die Bevölkerung unter einem Wahrheitsdefizit, sondern auch der Souverän selbst wird zum Gefangenen der eigenen Schöpfung. So sehen sich denn auch die Herrscher bis zum Tag der für sie plötzlichen Entmachtung einzig wohlklingenden Sirenengesängen ausgesetzt."