Aus den Feuilletons

Die riesige Spinne Europa

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Der griechische Komponist Mikis Theodorakis in seinem Haus in Athen am 24.02.2015 © picture alliance / dpa / Orestis Panagiotou
Von Adelheid Wedel · 22.06.2015
Die Sorge um Europa treibt die Feuilletons um: Griechenlands Komponistenlegende Mikis Theodorakis beklagt, Europa habe den Griechen jede Hoffnung geraubt. Und der Philosoph Jürgen Habermas fordert einmal mehr den Ausbau der EU zu einer politischen Union.
"Unser aller Leben hatte einmal einen natürlichen Rhythmus, den haben wir verloren", sagt Mikis Theodorakis im Gespräch mit Hansgeorg Hermann in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Der berühmteste Komponist Griechenlands und ein Liebling der Nation, wie ihn die Zeitung nennt, blickt nun, fast neunzigjährig, auf sein Leben zurück und spricht über die Situation in seiner Heimat. Für die Menschheit sagt er:
"Wir versinken in ungeheuren Geldbewegungen und einem Bombardement von Informationen, wir verlieren und vergessen unsere Menschlichkeit, unser Menschsein. Dabei haben wir Hunger auf echte Harmonie – nicht auf solche, die als Illusion daherkommt. Wir erleben heute das vielleicht größte Chaos, dem Menschen jemals ausgesetzt waren", setzt Theodorakis warnend fort.
Jeden Tag wird den Griechen die Hoffnung geraubt
"Wir hatten in Europa furchtbare Kriege, doch ich fürchte, diesmal ist es noch schlimmer. Das Chaos wird uns eingepflanzt, jeden Tag, und es lebt in jedem von uns. In diesem Moment unseres Gesprächs werden Menschen geschlagen und getötet, überall auf der Welt. Wir sind geworden, was wir nicht sein wollten."
Zur Situation in Griechenland befragt, spricht er von der unseligen Austeritätspolitik, die die Griechen ins Elend gestürzt habe. Und dann wieder ganz kämpferisch:
"Wenn man Druck macht auf ein Volk, dann steht es irgendwann auf."
Das sei an die Adresse jener gerichtet, die uns hier jeden Tag an die Wand stellen wollen. Das vom Geld dirigierte Europa erscheine ihm inzwischen "wie eine riesige Spinne, und jeder, der in ihr Netz gerät, ist verloren. Wo sollen wir Hoffnung hernehmen. Man raubt sie uns ja jeden Tag", klagt Theodorakis, ohne konkret jemanden anzuklagen.
Das letzte Wort in Europa müssen die Bürger haben, nicht die Banker
Da verhält sich Jürgen Habermas anders. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG nennt er Ross und Reiter, seziert Defizite der Europäischen Union und fordert Korrekturen. Eine Währungsgemeinschaft ohne politische Union nennt er "eine Fehlkonstruktion".
"Die Währungsgemeinschaft bleibt instabil", urteilt er glasklar, "solange sie nicht um eine Banken-, Fiskal- und Wirtschaftsunion ergänzt wird. Das bedeutet aber, wenn wir die Demokratie nicht unverhohlen zur Dekoration erklären wollen, den Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer politischen Union."
Der Mangel wird offenkundig durch ein "ungewollt komisches einträchtig nationalistisches Denken, das der europäischen Öffentlichkeit unübertrefflich vor Augen führt, was wirklich fehlt – ein Focus für eine gemeinsame politische Willensbildung der Bürger über folgenreiche politische Weichenstellungen in Kerneuropa. Die griechische Wahl hat Sand ins Brüsseler Getriebe gestreut."
Das ist noch so ein Satz, der haften bleibt von diesen Habermas'schen Überlegungen in der SZ, die mit der Forderung schließen:
"Es sind die Bürger, nicht die Banker, die in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten müssen."
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