Die Tal-der-Ahnungslosen-These
"Mit treudeutschen Grüssen!" überschreibt die "Welt" die Rezension eines Buches mit Wutbriefen von DDR-Bürgern an Honecker und Co. Manche Schreiben aus Sachsen lesen sich, als hätten sie bereits den Pegida-Virus intus.
Ursprünglich wollten wir mit einer Klage darüber beginnen, dass die aktuellen Feuilletons eine zutiefst graue Atmosphäre ausstrahlen. Aber dann haben wir uns doch nicht getraut. Denn erstens hätten Sie jetzt vielleicht schon abgeschaltet, liebe Hörer. Zweitens könnte die Feuilleton-Tristesse auch im Auge des Betrachters liegen, also: an uns. Und drittens gibt es da immerhin eine geheimnisvoll ermunternde Überschrift. Sie steht in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und lautet:
"Blumen pflücken, nicht Unkraut jäten."
Und mit dem Blumenpflücken fangen wir jetzt an – ungeachtet dessen, dass auch Unkraut oft blumenhaft blüht.
"Mit treudeutschen Grüssen!" überschreibt die Tageszeitung DIE WELT einen Artikel, in dem Michael Pilz alte Wutbriefe von DDR-Bürgern präsentiert, die er wiederum in dem dtv-Band "Volkes Stimme", herausgegeben von Siegfried Suckuts, gefunden hat.
Im Frühjahr 1980 zum Beispiel schrieb ein anonymer Dresdner, als hätte er einen Vorläufer des Pegida-Virus intus:
"'Der heutige Staat, als einzelnes Individuum betrachtet, gehört ins Zuchthaus und zwar lebenslänglich. Alle Kommunisten gehören aufs Schafott oder an den Galgen, mit dem Kopf nach unten und darunter schwelendes Feuer.'"
Dass dieser phantasievolle Kommunisten-Fresser in Dresden lebte, ist dem WELT-Autor Pilz zufolge kein Zufall, denn verglichen mit Menschen anderer Gegenden waren die Sachsen "damals schon empirisch die bei Weitem Eifrigeren und Empörteren".
Weil die Gründe letztlich undurchsichtig sind, ergeht sich Pilz in einer Vermutung:
"Womöglich ist die Tal-der-Ahnungslosen-These, die besagt, Pegida wäre auch die Folge des bis 1990 abwesenden Westfernsehens im Großraum Dresden, doch nicht ganz so abwegig und albern."
Respekt und Verachtung
Wir mischen uns hier mangels eigener These lieber nicht ein, sondern schlagen die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG auf, in der Hartwig Isernhagen innerhalb der Rubrik "Replik" bestreitet, dass es "zivilisierte Verachtung" geben kann.
"'Respekt' und 'Verachtung' sind nicht nur unvereinbar, sondern als emotionsgeladene, moralisch besetzte Haltungen in der Auseinandersetzung mit grundlegenden Wertkonflikten heute unbrauchbar – und unnötig. In Wirklichkeit geht es um simple Handlungen: um Akzeptanz und Zurückweisung, jeweils mit Begründung, jeweils mit Benennung des Geltungsbereichs. Das erledigt die Konflikte nicht, aber es macht sie in einem nun ganz grundlegenden Sinn 'zivilisiert'",
behauptet – als hätte er ziemlich viel Habermas gelesen – der NZZ-Autor Isernhagen.
Philosophin Judith Butler wird 60
Wir kommen indessen zum Geburtstagskind dieses Mittwochs: Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler wird 60 Jahre alt.
In der TAGESZEITUNG verbeugt sich Micha Brumlik vor den akademischen Leistungen Butlers – kritisiert aber, dass ihr "radikaler Moralismus" zur "Blindheit gegenüber der Wirklichkeit" führe.
"So stellte sie in (ihrem Buch) 'Am Scheideweg' (...) eine empirische Hypothese auf, über deren Blauäugigkeit man sich angesichts des Kriegs in Syrien nur an den Kopf greifen kann: 'Der Verlust der demographischen Überlegenheit der jüdischen Bevölkerung', so die Philosophin, ' würde mit Sicherheit die Aussichten für die Demokratie in dieser Region verbessern.'"
Der TAZ-Autor Brumlik hält das für Unfug und setzt noch einen drauf:
"Zudem wäre Butler, die Staatskritikerin, zu fragen, warum sie, der es doch darum geht, die Legitimität der israelischen Staatsgründung zu dekonstruieren, übersehen hat, dass – nach rein moralischen Kriterien – ausnahmslos jede historische Staatsgründung (...) illegitim ist?"
Gut verständlich, was Brumlik schreibt, finden wir.
Falls Sie es aber komplizierter mögen, führen Sie sich unbedingt Dietmar Daths onduliertes Butler-Geburtstagsständchen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu Gemüte.
So, nun haben wir erstens unseren Job erledigt, aber zweitens immer noch keinen wirklich prickelnden Eindruck von den frischen Feuilletons. Für Ihre eigene Lektüre jedoch sollte auf jeden Fall die Parole gelten, die in der TAZ Überschrift wurde:
"Nicht gleich einknicken!"