Aus den Feuilletons

Die Trauertrittbrettfahrer

Plötzlich wollen ihn alle gekannt haben: den verstorbenen FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher.
Plötzlich wollen ihn alle gekannt haben: den verstorbenen FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher. © picture alliance / dpa / Fredrik von Erichsen
Von Arno Orzessek · 21.06.2014
Die Nachrufe auf Frank Schirrmacher haben auch eine unschöne Seite, schreibt die Wochenzeitung "CHRIST UND WELT". Denn plötzlich wollen ihn alle gekannt haben - und semi-prominente Feuilletonisten möchten sich damit selbst ins Rampenlicht rücken.
Klar, es ist reine Geschmackssache...
Aber umso entschiedener behaupten wir: Die appetitlichste Rubrik im deutschsprachigen Feuilleton, das sind die "Mundstücke" in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
An diesem Samstag probierte Samuel Herzog "Korianderfrüchte"...
"Nicht das Kraut wohlgemerkt, sondern die Früchte", präzisierte Herzog, behauptete: "Koriander ist Sommer im Mund", reflektierte auf den Sommer als "Hochsaison der Melancholiker" – "der Herbst ist etwas für Melodramatiker, die es gerne eine wenig plakativ haben" –, nahm endlich eine dieser Korianderfrüchte in den Mund, biss hinein und hielt fest:
"Bei Kauen von Koriander wird [...] deutlich, wie schwer es ist, beim Moment selbst zu bleiben. Ja, man könnte die Art, wie sich der Koriander im Mund benimmt, im Spannungsfeld des Gegensatzes zwischen ‚Moment' und ‚Bleiben' lokalisieren. Vielleicht ist der Koriander eine aromatische Übersetzung des Verdachts, dass wir die grösste Nähe zum Moment wohl dann erleben, wenn wir noch spüren, dass eben etwas vergangen ist."
Samuels Herzogs Mundstück in der NZZ: 46 Zeilen guter Geschmack. –
Wir bleiben bei diesem Motiv: Spüren, dass etwas vergangen ist.
Auch in der vergangenen Woche druckten einige Feuilletons noch Nachrufe auf Frank Schirrmacher, den Herausgeber der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, der am 12. Juni gestorben ist.
Ganz in der Konvention blieb Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er sagte in der FAZ: "Danke, Frank."
Anders jedoch CHRIST UND WELT, die "Wochenzeitung für Glaube, Geist, Gesellschaft", die der Wochenzeitung DIE ZEIT beiliegt.
Christiane Florin begründete, warum ausgerechnet CHRIST UND WELT keinen Schirrmacher-Nachruf druckt:
"An den Nachrufen der anderen [...] fiel uns etwas auf: Keiner kam ohne ‚ich' aus. Über jedem hätte stehen können: ‚Ich. Ich. Und Frank Schirrmacher.' Viele [...] [wirken] wie Trauertrittbrettfahrer. Auf Facebook posten nicht ganz so prominente Feuilletonisten Knipsbilder, die sie beim Stehempfang ganz nah am ‚FAZ'-Herausgeber zeigen. [...] Allerdings war der Schrei ‚Ich habe ihn gekannt' bisher drittklassigen deutschen Schauspielern vorbehalten, deren Autobiografien als Höhepunkte den Besuch bei jenem Friseur in Hollywood verzeichnen, der schon Julia Roberts' Strähnen zähmte. Jetzt ist die Boulevard-Sitte in der Hochkultur angekommen in Gestalt des Nekrolog-Adabeis, des Nachruf-Selfies."
So die stichhaltige Medienschelte von Christiane Florin in CHRIST UND WELT.
Bleiben wir bei Schirrmachers Lieblingsthema, dem Digitalen.
Peter Richter berichtete in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vom "Krieg um die Hauptstadt des Internets" – und meinte San Francisco, wo die Mieten jüngst dreimal so schnell gestiegen sind wie in New York.
"Wer soll so viel Geld verdienen? [überlegte Richter]. Antwort: ein ziemlich großer Haufen Jungs, die programmieren können. Die brauchen kein Eigenheim im Vorort; keinen Kontakt mit Frauen haben sie schon bei der Arbeit genug."
Und weiter SZ-Autor Richter:
"Der Konflikt ist eskaliert, seit es die Google-Busse gibt, womit grundsätzlich immer all die Shuttle-Busse all der Firmen aus dem [Silicon] Valley gemeint sind, die die Angestellten der Technologiebranche, die sogenannten Techies, aus der Stadt zur Arbeit befördern. Die Nachricht, dass diese Google-Busse von erbosten Nicht-Techies mit Steinen beworfen wurden, ist um die Welt gegangen. Dass der Risikokapitalgeber Tom Perkins zu Protokoll gab, Reiche würden in San Francisco behandelt wie die Juden in der sogenannten Reichskristallnacht, das hat [...] in den USA Diskussionen ausgelöst. Beides zeigt, wie zur Zeit die Stimmung ist in dieser Stadt",
erklärte SZ-Autor Richter.
Fliegen wir nun um den halben Erdball in eine andere Problem-Zone.
"Alle Wege führen nach Kiew", titelte die NZZ.
Die in Moskau geborene Publizistin Sonja Margolina pries Kiew als "neue Wiege der russischen Aufklärung" an, falls Wladimir Putin seine Idee vom ostwärts orientierten "'Eurasianismus'" verwirklicht.
"Je europäischer Kiew wird, desto ferner rückt ihm Russland. Das bedeutet wiederum, dass auch die russische Kultur ihren Mittelpunkt in Kiew wiederentdecken und über Kiew nach Europa zurückkehren könnte. [...] Dafür muss Kiew seines Russisch-Seins innewerden."
Sonja Margolina in einer, sagen wir es vorsichtig: höchst windigen kulturgeographischen Spekulation.
Ein Jürgen Habermas, der in der vergangenen Woche 85 Jahre alt wurde, äußert sich da natürlich ganz anders....
Weshalb ihn die BERLINER ZEITUNG fragte, ob das nicht ein Widerspruch sei: Stets den öffentlichen Vernunftgebrauch einfordern, aber durch enorme Komplexität viele Menschen ausschließen.
"Mein Ehrgeiz, ein breites Publikum zu erreichen, war immer begrenzt. Ich gehe ja auch nicht ins Fernsehen. Am liebsten bewege ich mich in der Universität. [...] Mir kommt es [...] nicht auf die Zahl der Leser an, sondern darauf, das bestimmte Gedanken den Weg in die Öffentlichkeit finden",
betonte der bescheidene Jürgen Habermas, der von einigen als berühmtester Philosoph der Welt gehandelt wird, in der BERLINER ZEITUNG.
Die kantigen Seiten des gestrengen Propheten der sprachlichen Rationalität erwähnte der Staatsrechtler Christoph Möllers in der SZ:
"Mit dem 'zwanglosen Zwang des besseren Arguments', der sprichwörtlich gewordenen Zauberformel seiner Theorie, lässt sein Erfolg sich nicht erklären. Habermas ist eine physische Präsenz. Nichts Vergeistigtes eignet seinem Auftritt. Sein Zorn und die Härte seiner Diskussionsbeiträge sind berüchtigt. Es ist nicht schwierig, sich vor ihm zu fürchten. Er geht hart an die Sache und erwischt dabei nicht selten auch die Person."-
Liebe Hörer, Jürgen Habermas wird es natürlich gar nicht gefallen. Trotzdem wünschen wir Ihnen – mit einer SZ-Überschrift - für diesen Sonntag und den Rest Ihres Lebens:
"Eine gewisse Grundverrücktheit."