Aus den Feuilletons

Die Verhunzungsenergie der Regie-Rüben

Marcel Kohler (l) als "Marie Beaumarchais" und Susanne Wolff als "Clavigo" bei einer Probe zu Stephan Kimmigs "Clavigo"-Inszenierung in Salzburg.
Marcel Kohler (l) als "Marie Beaumarchais" und Susanne Wolff als "Clavigo" bei einer Probe zu Stephan Kimmigs "Clavigo"-Inszenierung in Salzburg. © picture alliance / dpa / Barbara Gindl
Von Arno Orzessek |
Wie schön ist es doch, wenn Theater polarisiert: Während in der "Welt" Marcus Woeller die Salzburger "Clavigo"-Inszenierung von Stephan Kimmig noch als Abbild einer "Gesellschaft von Selbstoptimierern" sieht, ist Gerhard Stadelmaier in der "FAZ" vor Wut nicht zu bremsen.
"Dum du. Dum du. Dam dim di di. Du dam dim di. Di du Huhu! Huhu!"
So oder so ähnlich, liebe Hörer. Sicher ist, dass uns die Tageszeitung DIE WELT zum Sprechgesang nötigt - und dass Marcus Woeller nach dem letzten "Huhu!" erklärt:
"Das proto-dadaistische Finale von Goethes 'Concerto Dramatico' wird phonetisch zerlegt."
Und zwar in der Salzburger Clavigo-Inszenierung, in der Stephan Kimmig laut Woeller die Vorlage, in der ein junges Genie um der Karriere willen das Herz seiner Liebsten bricht, als "Ich-Festspiele" inszeniert.
"Der Kunstbetrieb, der sich hier so überspitzt darstellt, ist eigentlich nur eine Folie für die Realität. Wir sind eine Gesellschaft von Selbstoptimierern geworden. Andy Warhols Versprechen von den 15 Minuten Ruhm ist ein zeitloser Selbstläufer, seit wir alle kreativ sind. Dabei machen wir uns aber nur zum Hanswurst des Zeitgeistes, wollte der Regisseur wohl sagen."
Wer meint, Woellers Urteil seit etwas wankelmütig, liegt womöglich richtig: Woeller, sonst zuständig für bildende Kunst, textet nämlich für die WELT-Rubrik "Urlaubsvertretung", in der Kritiker in anderen Gattungen fremdgehen, während die Platzhirsche etwa am Strand braten. "Wer weiß, wozu es gut ist", stellt die WELT anheim.
"Verdeppung des Theaters"
Niemals dagegen wankt oder schwankt das Urteil Gerhard Stadelmaiers. Schon die Überschrift seiner Kritik in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG – "Diese ruchlosen Rüben" – lässt Lästerspaß erwarten, die Unterschrift macht aus Spaß Ernst:
"Salzburger Schmockerln: Über die Verhunzung und Verdeppung des Theaters anlässlich eines ohne jegliches Interesse am Stück inszenierten 'Clavigo'."
Stadelmaier ist derart gut, das heißt: böse in Form – das sollten Sie sich komplett antun, liebe Hörer!
Hier Auszüge von dem, was weniger Naturwüchsig-Wütende ohne frische Nase Koks kaum in die Tastatur getackert bekämen.
"An diesem kleinen großen Stück hat sich die inhumane Unlust und Schnoddrigkeit, die Verhunzungsenergie, die dumm-assoziative Beflissenheit dessen, was einem gerade durch die Regie-Rübe rauscht, immer schon gerne ausgetobt. Den Gipfel dieser öden, unsäglich langweilenden, unterirdisch verblödelten Tobsüchtigkeit und Rübenrauscherei hat man aber erst jetzt im Salzburger Landestheater erlebt."
Am Ende quäkt der Theaternarr Stadelmaier:
"Gibt es in Berlin und Salzburg irgendeine Dramaturgie, irgendeine Instanz, die ihre paar Goethe-Tassen noch im Schrank hat? Oder gar eine Intendanz, die solcher aufgeblasenen Willkür wehrt? Wozu bezahlen die Leute ihre sündhaft teuren Festspielkarten? Und wofür kriegen die da droben ihre Subventionen? Es reicht. Es ist genug."
Sibirien wird schleichend chinesisch
Wir aber machen weiter mit Sommertypischem. Zumal sich "Russlands vergessener Osten" in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG unter der Überschrift "Schön, weit, frei" zur sechsspaltigen Stippvisite anbietet. Laut Tim Neshitov hat man dort mit Chinesen zu rechnen.
"Es fällt schon sehr auf, dass Russland – oder korrekterweise: die prorussischen Milizen – um jeden blutgetränkten Zentimeter Land in der Ukraine kämpfen, während in Sibirien Hektar um Hektar, Insel um Insel an China abgetreten werden. Mehr als 600 Inseln in den Flüssen Amur und Ussuri wurden seit dem Ende der Sowjetunion China überlassen. Erst vor wenigen Wochen pachtete ein chinesisches Unternehmen 300.000 Hektar sibirisches Agrarland für 49 Jahre."
Hätten Sie es gewusst? Na bravo!
Ums verschmockte Bild des Ostens im Westen kümmert sich die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. Hoo Nam Seelmann erklärt, "warum es nicht harmlos ist, wenn westliche Frauen vor einem Monet-Gemälde [das Camille Monet im Kimono zeigt] im Kimono posieren."
"Die Asiaten sahen die westlichen Kulturen nie als exotisch an. Dafür war der Westen zu mächtig. Exotik ist eine Kategorie, die eine dominante Seite benutzt, um die andere Kultur zu verniedlichen, konsumierbar zu machen und mit der Geste der Verharmlosung herabzustufen."
Soweit für heute. Genießen Sie den Sommer, liebe Hörer! Und falls Sie dabei jemanden küssen, halten Sie sich doch an die Empfehlung, die in der TAGESZEITUNG Überschrift wurde: Küssen Sie "So richtig mit Zunge"!
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