Aus den Feuilletons

Ein Leben ohne Freiheit ist möglich

Der französische Autor Michel Houellebecq im November 2014 in einem Pariser Restaurant, eine Zigarette in der Hand.
Der französische Autor Michel Houellebecq im November 2014 in einem Pariser Restaurant © Lionel Bonaventure / AFP
Von Arno Orzessek |
Ein Leben in Unfreiheit muss gar nicht so schlecht sein - meinte zumindest der Schriftsteller Michel Houellebecq im Gespräch mit der "Zeit". Selbst wenn wir die Aufklärung hinter uns ließen, blieben noch Kathedralen und die Musik von Bach.
"Wir stolze Menschenkinder
Sind eitel arme Sünder
Und wissen gar nicht viel;
Wir spinnen Luftgespinste
Und suchen viele Künste
Und kommen weiter von dem Ziel."
Nicht nur Lyrik-Ultras werden es erkannt haben: So lautet die vierte Strophe in Matthias Claudius "Abendlied". Das bekanntlich mit der tröstlich-vertrauensbildenden Beobachtung anhebt: "Der Mond ist aufgegangen".
Laut der Tageszeitung DIE WELT, die unter dem Titel "Die deutsche Mondlandung" zwei Rostocker Experten zitierte, ist das "Abendlied" "seit Jahrzehnten unangefochten das am besten belegte deutsche Gedicht in deutschen Anthologien". Warum wir das erwähnen? Zum einen, weil am Mittwoch der 200. Geburtstag von Matthias Claudius war. Zum anderen, um etwas kulturhistorischen Atem zu holen. Denn jetzt geht's los mit der feuilletonistischen Problem-Agenda.
Frankreich nach dem großen Trauermarsch
In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG berichtete Barbara Villiger Heilig von ihrem Streifzug durch Paris nach dem Attentat auf"Charlie Hebdo" und resümierte – trotz "Sirenengeheul, Armeepräsenz, Polizeischutz" – recht zuversichtlich:
"Offenbar reißen sich die Franzosen im Moment der Gefahr zusammen. Wen auch immer ich befrage, die Marche Républicaine, mit ihren landesweit auf vier bis fünf Millionen geschätzten Teilnehmern ohne jegliche rassistische Zwischenfälle verlaufen, bedeutet eine Zäsur und könnte, so wagen viele zu hoffen, als Wendepunkt in die Geschichte des von gesellschaftlichen Spannungen zerrissenen Frankreichs eingehen."
Ganz anders bewertete der Philosoph Slavoy Zizek in der TAGESZEITUNG den Trauermarsch – zumindest im Blick auf die mitmarschierenden Politiker:
"Das Pathos der umfassenden Solidarität, dass sich nach den Pariser Morden explosionsartig ausbreitete, endete am 11. Januar im heuchlerischen Spektakel der Politiker aus der ganzen Welt, die sich an den Händen hielten."
Oliver Maria Schmitt, Ex-Chef des Satire-Magazins "Titanic", fühlte sich vom allgegenwärtigen "Je suis Charlie" so angefressen, dass er in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG erklärte, "warum ich kein Satiriker mehr bin".
"Die allfällige Kritik mit komischen Mitteln besorgen die Betroffenen doch schon selbst! Da demonstrieren in Paris die Führer der Welt für Friede, Freude, Eierkuchen, während einige dieser Spaßvögel in ihren Heimatländern Journalisten auspeitschen, foltern und wegsperren lassen. Da steht Angela Merkel vor dem Brandenburger Tor und demonstriert für die Pressefreiheit, während ihr schon der leibhaftige Schalk Seehofer im Nacken sitzt und höhere Strafen für Blasphemie fordert. Wenn das keine Schenkelklopfer sind!"
Grimmig grinsend: Oliver Maria Schmitt in der "FAZ".
Ohne Sarkasmus fragte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG: "Was soll Satire? Was darf sie?" – und überließ die Antwort Andreas Zielcke.
"Satire ist der performative Selbstwiderspruch par excellence. Sie soll der Macht die Wahrheit ins Gesicht sagen, sie soll dies aber nicht auf sachliche Art tun, sondern als Angriff. Sie darf und soll verletzen, obszön sein, verkürzen, übertreiben, lächerlich machen, respektlos sein, ironisieren, verstören, unfair attackieren. Der demokratische Gewinn einer solchen Lizenz zur verantwortungsfreien rhetorischen Aggressivität ist nicht zu überschätzen. Vorausgesetzt allerdings, man behält die Prämisse im Auge, dass es die Waffe der Wahrheit gegen die Macht ist ..."
... unterstrich Andreas Zielcke.
Schriftsteller Michel Houellebecq beschäftigt die Feuilletons
Gebannte Aufmerksamkeit richteten die Feuilletons unterdessen auf Michel Houellebecq und seinen Roman "Unterwerfung". Ob er sich vorstellen könne, in einem moderaten islamischen Staat zu leben, wollte die Wochenzeitung DIE ZEIT vom Außenseiter-Star der französischen Literatur wissen. "Ja, wenn man glaubt, ist das möglich", antwortete Houellebecq – und fand es eher unproblematisch, dass sich dann die Frauen den Männern unterwerfen müssten:
"Manchen gefällt es, keine Freiheit und keine Sorgen zu haben."
Daraufhin Iris Radisch: Freiheit sei "so ziemlich das höchste Gut, was wir im Westen haben".
"Aber es gibt auch Bibelstellen, die die Freiheit infrage stellen", erwiderte Houellebecq. "Und wenn wir die Freiheit verlieren, verlieren wir schließlich nicht alles. Wir verlieren die Kathedralen nicht, wir verlieren Bach nicht. Es gibt sehr vieles im Westen, das uns erhalten bleibt, wenn wir die Aufklärung hinter uns lassen."
Wie weit sollten sich Politiker Pegida nähern?
Selbstverschuldete Unmündigkeit ist hierzulande das Kennzeichen zumindest einiger Pegida-Anhänger. Trotzdem forderte Christian Thielemann in der ZEIT: "Ohren auf!"
"Es wird viel geredet in Deutschland", bemerkte der Chefdirigent der Dresdner Staatskapelle, "aber es wird nicht offen geredet, sodass wir für bestimmte Dinge nur die Wahl zwischen Parolen und politischer Korrektheit haben und keine differenzierte Sprache mehr. Es wird nicht mehr zugehört. Das besorgt mich. Pegida sei nicht die Krankheit, sondern das Symptom, hat die Schriftstellerin Monika Maron gesagt. Unser Politiker doktern nahezu ausschließlich an den Symptomen herum ..."
... motzte Thielemann.
Belustigt zeigte sich WELT-Autor Henryk M. Broder angesichts der Schelte für Ex-Pegida-Aktivist Lutz Bachmann, von dem Fotos mit Hitler-Bärtchen aufgetaucht waren.
"Solche periodischen Anfälle von Hysterie kann man nur damit erklären, dass Hitler den Deutschen peinlich ist. Sie wissen, dass sie einem Mickerling auf den Leim gegangen sind. Und deswegen muss aus dem Würstchen eine dicke Salami gemacht werden, eine Bestie, ein Monster, dessen Blick Millionen in die Ohnmacht trieb. Deshalb mögen sie es nicht, dass Hitler ironisiert wird. Da hilft nur eines: So wie Menschen mit Flugangst lernen müssen, ihre Angst zu überwinden, sollten Massen von Deutschen sich ein Bärtchen ankleben, einen Seitenscheitel ziehen und mit einem Schild um den Hals 'Wir sind Adolf!' verkünden."
Soweit der Volksheiler Hendryk M. Broder. Wir enden garantiert satirefrei – mit Matthias Claudius:
"Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen,
Und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
Die wir getrost belachen,
Weil unsere Augen sie nicht sehn."
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