Ein Neurotiker als Kassengift
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Die Vergangenheit holt Woody Allen ein. Die Memoiren des einst gefeierten Kultregisseurs will kein Verlag drucken, weil er vor Jahrzehnten seine Tochter Dylan missbraucht haben soll, berichtet die "FAZ".
"Nach der Apokalypse ist vor der Apokalypse", titelt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. Es geht um verschiedene Formen der erlebbaren Wirklichkeit eines Stoffs:
"Die Menschen wurden von der verstrahlten Oberfläche Moskaus in die Schächte der Untergrundbahnen gedrängt. Stationen wurden zu Stadtstaaten, aus einem Volk wurden viele Stämme, die alten und neuen Ideen huldigen: Nationalisten, Kapitalisten, Kommunisten – alle sind vertreten in den Science-Fiction-Romanen der 'Metro'-Reihe des russischen Autors Dmitry Glukhovsky."
Buch und Videospiel vereint
"Drei 'Metro'-Romane hat Glukhovsky bisher veröffentlicht", erzählt Tobias Müller. "Das ukrainische Studio '4A Games' entwickelte dazu drei Videospiele. Dabei lösen sich die Spiele vom Inhalt der Romane. In Abstimmung mit dem Autor entstand so ein paralleler Erzählstrang innerhalb seiner fiktiven Welt. Zudem ließ Glukhovsky fast hundert von Lesern geschriebene 'Metro'-Erzählungen als Romane veröffentlichen. Mit diesem Anspruch an seine Leserschaft bewegt sich Glukhovsky ganz im Zeitgeist."
Und: "Die Technik der virtuellen Realität, kurz VR, lässt den Spieler mit dem entsprechenden Equipment noch tiefer in die Fiktion eintauchen. Es ist absehbar", meint Müller, "dass in einigen Jahren viele Bastler nicht mehr ihrer Modelleisenbahn im Keller frönen, sondern in ihr sitzen, während sie gemeinsam mit anderen von ihnen konzipierte Strecken befahren."
Das ist die harmlose Variante, in der Fiktion unser Leben bestimmen kann.
Goethes "Werther" lässt grüßen
Von einer weniger harmlosen berichtet Benedikt Frank in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: "Nach dem Start der Serie 'Tote Mädchen lügen nicht' haben Suizide unter US-Teenagern stark zugenommen. Labile Jugendliche ahmen offenbar in der Realität die Fiktion nach."
"Kaum war die erste Staffel 'Tote Mädchen lügen nicht' online" erinnert Frank, meldeten "sich weltweit Psychologen zu Wort. Einhellig warnten sie vor '13 Reasons Why' – so der Originaltitel der Produktion – die vom Suizid einer High-School-Schülerin erzählte. Nun haben Forscher im Zusammenhang mit 'Tote Mädchen lügen nicht' ein Phänomen beobachtet, das gemeinhin als 'Werther-Effekt' bezeichnet wird."
"Benannt nach Goethes Roman 'Die Leiden des jungen Werther', dessen Veröffentlichung seinerzeit zu einer Welle von Selbsttötungen junger Menschen geführt haben soll. Während dieses berühmte historische Phänomen kaum belegt ist, gibt es unzählige Studien zu dem Effekt in der modernen Zeit."
"Die belastbare Hypothese" lautet, so Benedikt Frank: "Psychisch beeinträchtigte Teenager ahmen nach, was sie bei Netflix sehen."
Woody Allen verklagt Amazon
Nicht Netflix, aber Amazon ist gerade von einem auf 68 Millionen Dollar verklagt worden, von dem wir auch nicht so recht wissen, wieviel an ihm Fiktion ist und wieviel echt, der, wie Verena Lueken in der FAZ schreibt, "wie kaum ein anderer aus dem Vexierspiel von Leinwandpersona und Künstlerpersönlichkeit Kapital geschlagen hat":
"Woody Allen. Der hat seine Memoiren geschrieben – und niemand will sie drucken. Schon im vergangenen Sommer", berichtet Lueken, "hatte Amazon seinen Vertrag für vier Filme mit dem Regisseur gekündigt. Europa hält dem Regisseur", gegen den der Vorwurf des Missbrauchs seiner Tochter Dylan im Raum steht, "noch die Treue. Doch zu Hause gilt Woody Allen als Kassengift."
Bei ihm hat das Ineinander von Fiktion und Wirklichkeit eine besondere Dimension.
"Die ganze Vorstellung, nach der Kunst eine Sphäre sei, die jenseits des Lebens liege, stand immer auf wackeligen Füßen", findet Verena Lueken. "Wie soll das gehen?", fragt sie.
Obsession für junge Frauen
"Kunst ist Teil der Welt, in der Erfahrungen gemacht werden, und in irgendeiner Weise hängen die beiden zusammen. Natürlich findet sich in Allens Filmen eine Obsession mit sehr jungen Frauen, dazu braucht man nicht zu wissen, dass er mit sechsundfünfzig Jahren eine Einundzwanzigjährige heiratete – aber zu sagen, das eine habe mit dem anderen nichts zu tun", findet Lueken "absurd".
"'Das Herz will, was das Herz will', sagte er damals und so ist es auch in seinen Filmen. Ein Kritiker hat Woody Allen einmal als den 'neurotischen Narziss' beschrieben, der die Brücke zwischen der Psychoanalyse aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten in die Selfie-Kultur der ersten Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts geschlagen hat. Seine Filme bieten Woody Allen kein Versteck. So hat er es gewollt. Dahinter kann er nicht zurück. Die Öffentlichkeit aber wohl. Sie kann ihm ihr Interesse entziehen."
Und über dem Text steht mit der Schonungslosigkeit derer, die sich längst abgewendet hat:
"Dieses Herz bekommt nicht mehr, was es will."