Falsche Empörung?
"Warum ist uns dieses Huhn wichtiger als Aleppo?" - so titelte die "Welt" und zeigte tote Chlor-Hühnchen neben einem Kriegsbild. Die Kritik: Zum Massenmord in Syrien fällt den sonst so mitteilungsfreudigen Wutbürgern - insbesondere im Netz - nur wenig ein.
Heute machen wir mal etwas Neues: Wir beginnen unseren Wochenrückblick mit der Erkenntnis eines echten Sklaven - genauer gesagt, eines Ex-Sklaven. Das berühmte Zitat, ein Evergreen in humanistisch gebildeten Diskursen über Rhetorik, Medien, Öffentlichkeit und dergleichen – es lautet:
"Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern die Vorstellungen und Meinungen von den Dingen."
Niedergeschrieben hat das vor fast 2000 Jahren Epiktet, eine griechischer Sklave, der nach Neros Tod frei- und als Philosoph und Stoiker groß herausgekommen ist.
Uns dient das Zitat heute als Motto. Denn die Feuilletons quollen über von Artikeln, in denen sich die Autoren in Meinungskämpfe hinsichtlich der Macht von Meinungen und deren Einfluss auf den Lauf der Welt verstrickten…
Oft in abstrakter Weise, quasi auf der Meta-Meinungsebene - ohne persönliche Anschnauze und Denunziation.
"Welterklärer im Krisenmodus" titelte die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, in der Norbert Bolz behauptete:
"Funktionseliten werden unterschätzt, die Meinungselite überschätzt sich selbst."
Da Bolz zweifellos zur Meinungselite gehört, hätte man nun Selbstkritik erwarten können…
Allein, Bolz schimpfte auf andere:
"Die Intellektuellen des sozial-progressiven Mainstreams laden politische Themen moralisch so sehr auf, bis am Ende zwischen Thema und Meinung kein Spielraum mehr bleibt. Die Entscheidung der Amerikaner und Briten [pro Trump und Brexit] war schlecht, die Entscheidung von Frau Merkel, über eine Million Flüchtlinge ins Land zu lassen, war gut. Die Entscheidung der Österreicher gegen Norbert Hofer war gut, die Entscheidung gegen Renzis Verfassungsreform war schlecht. Die politische Einheit Europas ist gut, das Interesse an nationaler Souveränität ist schlecht",
so der streng angesäuerte NZZ-Autor Bolz…
Pennälerhafte Grobschlächtigkeit
Dem die etwas pennälerhafte Grobschlächtigkeit seiner Diagnose offenbar schnuppe war.
Sehr geschickt darin, mit Attacken auf missliebige Haltungen und Meinungen viele Blätter des Blattes zu füllen, ist die Tageszeitung DIE WELT.
Sie stellte direkt auf dem Titelblatt ein Foto aus dem zerstörten Aleppo dem Foto eines gerupften, womöglich zur Entkeimung in Chlor gebadeten Hühnchen-Torsos gegenüber und fragte: "Warum ist uns dieses Huhn wichtiger als Aleppo?"
Erwartungsgemäß empörte sich der WELT-Autor Jacques Schuster über diejenigen, die sich stets über die – durch die Schuster-Linse betrachtet – falschen Dinge empören:
"Im Zeitalter des elektronischen Stammtisch-Sumpfes, des 'Jeder darf mal!'-Postens und Senf-Dazugebens, in dem sich Wutbürger über alles erregen und alles besser wissen, in dem jede Ausdünstung ins Netz geblasen wird und jeder auch noch stolz ist auf seine Mitteilungsinkontinenz, fällt auf, dass den Damen und Herren Empörten zum Massenmord in Syrien wenig einfällt – und sei es nur, das eigene Entsetzen zu bekunden. Warum legen sie mit Massenmails nicht die Server der syrischen und russischen Regierung lahm?"…
fragte Jacques Schuster – und jeder mag selbst entscheiden, ob der WELT-Autor in einem wesentlich edleren Modus als dem des beklagten "Senf-Dazugebens" zur Tastatur gegriffen hat.
Am interessantesten für Kenner des akademischen Debattenkarussells war der Artikel "Katerstimmung bei den pubertären Theoretikern" in der Wochenzeitung DIE ZEIT.
Michael Hampe behauptete:
"Seitdem die Rechte postfaktisch geworden ist, hat die kulturwissenschaftliche Linke ein echtes Problem."
Hampe erging sich in Häme darüber, dass die kulturwissenschaftliche Linke stets behauptet habe, es gäbe nichts Handfest-Wirkliches, da ja "‚alles nur historisch diskursiv konstruiert‘" sei – jetzt aber knietief in der Bredouille steckt, weil sich der Konstruktivismus plötzlich von rechts gegen die Linke wendet.
Fiktive Wutrede eines Rechten
Zur Verdeutlichung legte Hampe einem fiktiven rechten Konstruktivisten diese Worte in den Mund:
"Wir lassen uns von euch kein schlechtes Gewissen mehr einreden, weil wir diese oder jene Wörter verwenden und damit angeblich Mikroaggressionen ausüben! Glaubt ihr, euer Versuch, uns zu sagen, wie wir zu sprechen haben, sei keine Aggression? Wer ist hier eigentlich der bully: wir mit unserer ungehobelten Rede oder ihr, die ihr uns als naive Rassisten entlarven […] wollt? Ihr habt doch bei eurem Hausheiligen Nietzsche ganz genau gelernt, wie Schwache die Starken unterdrücken: indem sie ihnen ein schlechtes Gewissen einreden! So habt ihr uns zur unterdrücken versucht, weil unsere Rede angeblich gewalttätig und unterdrückerisch ist. Aber […] wir sind euch auf die Schliche gekommen. Und zum Zuschlagen seid ihr Waschlappen ja eh nicht in der Lage."
Wutrede eines Rechten gegen linke Kulturwissenschaftler – ausgedacht von dem ZEIT-Autor Hampe, der erkennbar seinen Spaß hatte.
Ordentlich gewettert wird hierzulande auch über Efendi Erdogan in der Türkei, der seit dem Putsch-Versuch im Sommer Rechte beschränkt und Leute inhaftieren lässt, scheinbar wie es ihm gefällt.
Dass aber auch das Erdogan-Bashing etwas Heuchlerisches hat, das hielt Gregor Schöllgen in seinem Heuchler-Bashing in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG fest.
"Kein Europäer kam bislang auf die Idee, die alles in allem bewährte Partnerschaft mit den Amerikanern oder deren Rolle als Verbündete in Frage zu stellen, weil es dort die Todesstrafe gibt; konsequent wäre es aber. Wer der Türkei für den Fall der Wiedereinführung der Todesstrafe den Eintritt in die Wertegemeinschaft der Europäischen Union verwehrt, müsste die gemeinsame Mitgliedschaft mit Amerika in der Wertegemeinschaft der Nato aufkündigen – und sich gegebenenfalls dafür einsetzen, dass die Türkei aus der Nato ausgeschlossen wird. Niemand, der bei Sinnen ist, wird das tun. Dafür ist der Opportunismus dann doch zu ausgeprägt."
So der FAZ-Autor Schöllgen.
Eines, liebe Hörer, blieb restlos offen. Und zwar – mit den Worten einer Überschrift in der WELT: "Wie der Mensch die Menschheit retten wird."