FAZ lesen und die documenta verstehen
Eine Kulturpresseschau, in der die documenta nicht vorkommt? - So etwas gibt es nicht, jedenfalls nicht in dieser Woche. Allerdings verstehen nicht alle gleich auf Anhieb, ob diese documenta nun ein guter Jahrgang ist oder nicht. Die FAZ aber schon.
Sie dürfen gern tausendmal raten, liebe Hörer, und doch werden Sie nicht erraten, welches lautmalerische Wort für uns das Wort der Woche ist! Es ist – täta: "mimimi". Uns war "mimimi" bis dato unbekannt. Deshalb haben wir uns umso mehr gefreut, dass es in der Tageszeitung DIE WELT unter der Überschrift "Wir haben wohl mehr Heulsusen als früher" gründlich vorgestellt wurde.
Falls Sie - sprachgebildet wie Sie sind - jetzt nölen: "Gottogott, das ist doch kalter Kaffee", rufen wir Ihnen zu: "mimimi!" Und zwar kleingeschrieben. Mit der Wortneubildung, die offenbar schon acht Jahre alt ist, hat es laut dem WELT-Autor Matthias Heine nämlich Folgendes auf sich:
"'Mimimi' kann sowohl als Substantiv (dann groß geschrieben und ein Neutrum) als auch als Interjektion auftreten. Als Nomen hat es die Bedeutung 'weinerlich beleidigte Reaktion auf einen Witz, eine Maßnahme, einen Vorwurf oder ein Argument.' […] Als Interjektion ruft man es jemandem entgegen, dem man unterstellt, er entlarve sich selbst durch weinerliches Gequengel."
Der WELT-Autor Heine plädierte eindringlich für die Aufnahme von 'mimimi' in den Duden und zeigte die Nützlichkeit des Wortes anhand eines tollen Beispiels: "Der Schriftsteller und Satiriker […] Shapira twitterte vorige Woche einen angeblichen Screenshot, der zeigte, wir der Trump-Tweet 'Dies ist die größte Hexenjagd auf einen Politiker in der amerikanischen Geschichte' von der Microsoft-Suchmaschine Bing mit 'Mimimimimimimimimimimimimimimimi....' übersetzt wird."
In der Dichtung ganz ohne "mimimi"
Wie man in einer "mimimi"-verdächtigen Situation seinen Geist erhebt und die peinvoll empfundene Drangsal in Dichtung verwandelt, das lasen wir in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG unter dem Titel "'Die Liebe ist ein Griff ins Klo‘"… Ein Spruch der US-amerikanischen Schriftstellerin Dorothy Parker, deren Oeuvre vor allem Ende der Zwanziger Jahre entstanden ist. Die NZZ zitierte die packenden Parker-Zeilen:
Ist wund mein Stolz und wild die Brust,
Dann habe ich zum Selbstmord Lust;
Ist hoch mein Haupt und kühl mein Blut,
Dann denk ich, 'Tote haben’s gut!
Dann habe ich zum Selbstmord Lust;
Ist hoch mein Haupt und kühl mein Blut,
Dann denk ich, 'Tote haben’s gut!
Kehren wir damit den Innenräumen der Sprache den Rücken und treten hinaus in die Welt! Schwer im Feuer des Disputs stand das Kreuz, das die Kuppel des teilrekonstruierten Berliner Schlosses krönen soll.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG taten sich die Gründungs-Intendanten des im Schloss beherbergten Humboldt-Forums - Horst Bredekamp, Neil MacGregor und Hermann Parzinger – mit einem Vorschlag zur Güte hervor: Sie plädierten dafür, unweit des Kreuzes den 8x40 Meter großen Monumentalschriftzug "Zweifel" des norwegischen Künstlers Lars Ramberg zu installieren:
"Auf dem Dach des Humboldt Forums ständen somit zwei Grundprinzipien des kulturellen und geistigen Lebens der Stadt nebeneinander. Und auch die bauhistorische Rekonstruktion des Schlosses ist für sich genommen gebauter Zweifel, der in einem Kreuz, das an diesem Ort keine religiöse Funktion mehr hat, einen Höhepunkt findet. Insofern entsprechen sich Kreuz und Zweifel."
Das Preußentum ganz oben auf einem Berliner Dach
Anderer Meinung war derweil Brigitte Werneburg. Die Autorin der TAGESZEITUNG wies unter dem Titel "Das Gespenst des Preußentums" darauf hin, dass Andreas Schlüters Stadtschloss 150 Jahre lang weder Kuppel noch Kreuz getragen hatte – was sich erst 1854 durch Friedrich August Stülers Umbau änderte:
"Die neue Architektur [so Werneburg] kündete von der unheilvollen Allianz von Thron und Altar gegen ein demokratisch gesinntes Bürgertum, das mit seiner Revolution gescheitert war. Der König war wieder an der Macht, die ihm von Gottes Gnaden verliehen war, aber bestimmt nicht vom Volk."
Leider sind wir aus dem Stand unfähig, die Plausibilität der diametralen Kreuz-Deutungen von Seiten der TAZ und der Humboldt-Intendanten zu beurteilen und wenden uns deshalb der documenta 14 zu, von der sich die meisten Feuilletonisten nicht begeistert zeigten – schon gar nicht Nicola Kuhn im Berliner TAGESSPIEGEL:
"Die documenta 14 nimmt sich die Schlechtigkeit der Welt zu Herzen, ob in Vergangenheit oder Gegenwart: Holocaust und Hungersnot 1943/44 in Bengalen, die Armut allgemein, Sklaverei, postkoloniale Ungerechtigkeit. Thema für Thema, Raum für Raum wird abgearbeitet, was auf der Liste der Untaten des Westens steht, insbesondere der Deutschen. Selten wurde die Kunst so massiv als kollektiver Vorwurf inszeniert. […] Das ist schade, denn durch die gegenseitige Verstärkung zum Negativen verlieren die einzelnen Werke an Kraft, am Ende ist es nur noch ein Chor der Klage."
Die FAZ und das Marketing, das stehenbleibt
Was Kuhn im TAGESSPIEGEL der documenta ankreidete, könnte man auch mit unserem Wort der Woche ausdrücken: zu viel Mimimi! Die FAZ sah die documenta bereits in ihrer Überschrift "In der Klemme" und erklärte:
"Die documenta 14 will, dass wir alles verlernen, was wir von Kunst erwarten. Aber was bietet sie in ihren Räumen stattdessen an?"
Nun, Kolja Reichert resümierte:
"Nein, diese documenta erfüllt sich nicht in den Werken. Sie behandelt das Werk als Relikt von Lebensformen. Sie ist damit nicht nur nicht in der Lage, einen Anspruch am Gemeinsamen zu formulieren, auch das Gemeinsame gerät ihr aus dem Blick. Ihr Adressat muss mithin vielleicht gar nicht vor Ort sein. Es ist das Marketing, das stehenbleibt, die aufgerufenen Erzählungen einer feierlich-anarchischen Austerität. […] Der Betrachter dieser Schau ist belesen, schlank und schwarz gekleidet, ein Hungerkünstler, der die Speise nicht findet, die ihm schmeckt."
Verstehen Sie, liebe Hörer, was der FAZ-Autor Reichert hier ausdrücken will? Wir nicht! Außer, dass man vielleicht gar nicht nach Kassel fahren muss, um bei der documenta dabei gewesen zu sein.Sei's drum. Wir sagen "Tschüss" und verschwinden für heute, um es mit einer TAZ-Überschrift zu formulieren, im "Darkroom namens Berlin".