Freiheiten eines Dichters
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse erklärte, als Dichter müsse er nicht wissenschaftlich angemessen zitieren. Er hatte zuvor dem deutschen Politiker Walter Hallstein fremde Worte in den Mund gelegt - und wurde von einem Historiker ertappt.
Besinnlich und leise – Weihnachten verpflichtet! – sollten die Themen dieser Feuilletonwoche werden. Aber der in sich gekehrte Feuilletonist wurde gleich mehrfach durch die "Kakophonie des Draußen" aus seiner Andacht gerissen. Bis heute seien Konzerthäuser, in denen man schweigend lauscht, auch ein "Gegenpol zur Kakophonie des Draußen", sagte der Historiker und Stadtforscher Peter Payer im Gespräch mit Andrea Seibel von der WELT.
Menschliche und tierische Geräusche hätten im Laufe der Zeit ab-, Maschinenlaute zugenommen. "Ob die Straßen wirklich leiser werden mit der Elektromobilität, bleibt abzuwarten. Wir bekommen EU-weit nächstes Jahr ein Zwangsgeräusch per Gesetz verordnet", sagte Payer. Signalgeräusche in Elektro-Autos sollen verhindern, dass jemand überfahren wird, weil er den herannahenden Wagen nicht hört.
Die Signale sollen, so Payer, schöner klingen und gleichzeitig die jeweilige Automarke widerspiegeln: "Was nehmen wir da? Warum nicht Vogelgezwitscher? Die ganze Stadt klingt dann nach Vögeln! BMW klingt nach Specht und VW nach Spatz."
"5,10 Euro für ein mageres Nachweihnachtsheft"
Schön klang auch, was der Journalist Claas Relotius geschrieben und größtenteils erfunden hat. Vor allem, aber nicht nur für den "Spiegel". Der deckte das offensiv in seinem Magazin auf, was Friedrich Küppersbusch in der TAZ so kommentierte: "5,10 Euro für ein mageres Nachweihnachtsheft, das zu 22 Seiten und Titel aus der Fälschungsaffäre besteht: Respekt, das matcht sich mit der Idee der deutschen Autoindustrie, die Kundschaft sollte die Betrugsaffäre finanzieren."
"Schöne Bescherung" nannte David Denk den Fall in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. "Warum konnte sich Relotius darauf verlassen, Preise zu gewinnen, wenn er Geschichten über dumpfe Amerikaner erfindet?", fragte Jörg Thadeusz im Gespräch mit Markus Ehrenberg vom TAGESSPIEGEL. "Sie haben Relotius mehrfach einen Reporterpreis für solche Storys verliehen", bemerkte Ehrenberg.
Postmoderner Journalismus
Darauf Thadeusz: "Stimmt." – "Die völkische Rechte schreit nun erst recht ‚Lügenpresse‘", schrieb Thomas Assheuer in der ZEIT. Er behauptete, mit dem Skandal erlebe der "postmoderne Journalismus" sein "größtes Debakel", ein Journalismus, für den die Wirklichkeit gar nicht existiere und der deshalb nicht über sie aufkläre, sondern "sie in schönen Geschichten auflöse".
Zu schön, um wahr zu sein für manch glühenden Europäer, waren auch die Zitate des deutschen Politikers Walter Hallstein, die ihm der österreichische Schriftsteller Robert Menasse in den Mund gelegt hatte. Zum Beispiel: "Ziel ist und bleibt die Organisation eines nachnationalen Europas." Diesen Satz hatte auch der Journalist Ansgar Graw in einem Artikel ungeprüft übernommen, wie er in der WELT und der WELT AM SONNTAG zugab.
Dichtung und Wahrheit
Der Historiker Heinrich August Winkler hatte bei der Zeitung nachgehakt, weil er Zweifel an der Echtheit der Zitate hatte, aber auch an ihrem Inhalt: Hallstein habe die Nation nicht überwinden wollen. Robert Menasse verteidigte sich: Er habe die These des Politikers richtig wiedergegeben – was Winkler ja bezweifelt –, sie nur nicht wissenschaftlich angemessen zitiert. Das aber müsse er, Menasse, auch gar nicht, weil er weder Wissenschaftler noch Journalist sei, sondern Dichter.
Sein kreativer Umgang mit Zitaten sei kein "Schwindel", vielmehr "Methode". Es wirkte wie ein erbärmliches Ablenkungsmanöver. Warum soll ein Schriftsteller in journalistischen Textformen dichten, um nicht zu sagen: fälschen dürfen? Denn das erfundene Zitat "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!" ist zum Beispiel Teil eines Artikels für die FRANKFURTER ALLGEMEINE, den Menasse zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot veröffentlichte. Mit der Ergänzung: "Dieser Satz ist die Wahrheit."
Realität der Fiktion
Guérot bedauerte nun laut WELT, dass sie das von Menasse gelieferte Zitat nicht überprüft hatte. Allerdings sei sein Vorgehen nicht so schlimm wie der Relotius-Skandal oder die Affäre um die Plagiatsdoktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg. Ob Robert Menasse beim Schreiben seiner eigenen Doktorarbeit noch Wissenschaftler oder schon Dichter war, sollte man aber vielleicht mal überprüfen…
"Die ideologische Anfälligkeit, von jeher die Versuchung für den sogenannten engagierten Schriftsteller: Hier fehlt sie einmal ganz", lobte Tilman Krause von der WELT in seinem Nachruf den israelischen Autor Amos Oz. Der erlebte als Kind, wie Israel unabhängig wurde, und verarbeitete das in seinem Roman "Eine Geschichte von Liebe und Finsternis". "Zwar hat Amos Oz die israelische Realität als Grundierung seiner Werke benutzt, aber wie alle grossen Schriftsteller wollte er sie nicht abbilden, sondern aus ihr heraus eine andere Realität entwerfen: die Realität der Fiktion", urteilte Stefana Sabin in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG.
Kryptische Kommunikation
Die Trauer um Oz und das Entsetzen über Fälschungen im Journalismus haben eine süße und besinnliche Feuilletonwoche verhindert. Deshalb zum Trost noch etwas Heiteres: Der österreichische Schriftsteller Thomas Glavinic schreibt eine Kolumne zum Thema "Haushalt" für das Feuilleton der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Allerdings gibt er die Texte oft unangenehm spät ab, verrät die Redakteurin Julia Encke. Sie veröffentlicht die abenteuerlichsten, per E-Mail eingegangenen Entschuldigungen des Autors.
Darunter: "Ich bin heute Nacht offenbar ins Koma gefallen. Weiß nicht, ob ich Kolumne schaffe." Und ein andermal: "habe ich noch eine stunde? Ich finde meine brille nicht, und m computer sind die a tste, die korrekturtste, die kweh/kuh-tste und die eins/rufzeichentste kputt."