Aus den Feuilletons

Für eine Erneuerung der Linken

Ein Mann leuchtet mit einer Taschenlampe auf das Wort Future
Ist die Linke weltweit gerüstet für die Zukunft? © imago/Ikon Images
Von Burkhard Müller-Ullrich |
Wolfgang Streeck beklagt in der "FAZ" den deutschen Biederkeits- und Euphemismuszwang und hofft auf eine neue Linke, während Nick Cohen in der "Welt" die traditionsreiche britische Linke und deren Umgang mit Antisemitismus unter die Lupe nimmt.
Es ist knapp neun Monate her, dass der Kölner Soziologe und emeritierte Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Wolfgang Streeck in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG eine vielbeachtete Abrechnung mit dem in Deutschland herrschenden, Deutschland erstickenden Merkelismus inklusive seiner Ausläufer im gesamten Parteien- und Mediensystem vorlegte.

Der Soziologe Wolfgang Streeck
Der Soziologe Wolfgang Streeck beobachtet eine sentimentale Personalisierung politischer Konflikte. © Deutschlandradio / Bettina Straub

Deutscher Biederkeits- und Euphemismuszwang

Jetzt gibt es eine Fortsetzung mit einem etwas anderen Focus, aber genauso prägnanten Sprachduktus:
"Die deutsche politische Diskussion steht unter einem eigentümlichen Biederkeits- und Euphemismuszwang, der ein kollektives Wegmoralisieren von Schicksalsfragen zur Folge hat und sich als Sentimentalisierung politischer Probleme und sentimentale Personalisierung politischer Konflikte auswirkt", schreibt Streeck und beklagt insbesondere einen Diskussionsmodus, "der im Namen von 'Weltoffenheit' umstandslos Mitbürger, mit denen man gestern noch friedlich zusammengelebt hat, zu Nazis und Rassisten erklärt, nur weil sie ihre politisch erstrittenen, mit ihren Steuern finanzierten Kollektivgüter vielleicht teilen, aber nicht für moralisch enteignungspflichtig erklären lassen wollen."

Plädoyer für eine neue Linke

Streeck sieht deutlich, dass die SPD, deren Mitglied er war, inzwischen Politik gegen ihre angestammten Wählerschichten macht und sich immer weiter marginalisiert. Die Schicksalsfragen, von denen er spricht, sind beispielsweise: Globalismus und Nationalstaatlichkeit, Kapitalismus und Demokratie, Krieg und Frieden sowie das Scheitern der Klimaziele.
Andrea Nahles, Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, spricht bei der Plenarsitzung im Deutschen Bundestag.
Andrea Nahles: Wird sie die SPD erneuern?© dpa/picture-alliance/Bernd von Jutrczenka
Seine Hoffnung richtet sich auf eine "neu organisierte, realistische, das heißt reale politische Macht und Verantwortung suchende Linke", die sich einerseits vom aktuellen deutschen Weltrettungswahn verabschiedet, aber andererseits auch von Schuldenbremse und schwarzer Haushaltsnull. Anders gesagt: Streeck plädiert in altlinker Public-Spending-Tradition für die Neuaufnahme von Staatskrediten, damit es – wie er formuliert – "in Schulen nicht mehr durch das Dach regnet und Brücken und Straßen nicht zerbröseln."
Ganz originell sind diese Postulate nicht, aber ganz neu wäre es, wenn eine linke Regierung das Geld tatsächlich in die Infrastruktur statt in die immer mehr ausufernden Sozialsysteme investieren würde.

Antisemitismus-Kontroverse in der Labour Party

Die britische Labour Partei unterscheidet sich, was das betrifft, nicht von der SPD; sie hat allerdings ein deftiges Antisemitismusproblem in der Gestalt ihres Vorsitzenden Jeremy Corbyn. Darüber schreibt der englische Essayist Nick Cohen in der WELT:
"Der ewige Jude aus dem alten Nazi-Europa wurde von der Linken wiederentdeckt. Der Jude ist jetzt, einmal mehr, 'der Zionist': die dunkle Kraft hinter dem Elften September, dem Irak-Krieg, der Finanzkrise und natürlich den Angriffen auf ihren geliebten Anführer Jeremy."
Der Vorsitzende der britischen Labour Party, Jeremy Corbyn, sitzt am 25.09.2017 in Brighton (Großbritannien) anlässlich des Labour-Parteitages vor einem Bildschirm mit der Aufschrift "For the many. Not the few". Vom 24.-27.09. kommen die Labour-Parteimitglieder zum Parteitag zusammen. 
Britische Rabbis prangern "die existentielle Bedrohung jüdischen Lebens unter Corbyn" an. © dpa / picture alliance / Joel Goodman
Die antisemitischen Tendenzen in der Labour Party haben, wie Cohen berichtet, inzwischen dazu geführt, dass Rabbis, die sonst über alle möglichen Fragen miteinander im Streit liegen, einen gemeinsamen offenen Brief im "Guardian" veröffentlicht haben, in dem sie "die existentielle Bedrohung jüdischen Lebens unter Corbyn" anprangern. Der Hintergrund ist klar: "In Großbritannien sind Juden eine winzige Minderheit, genauso wie in Deutschland. Die viel größere muslimische Minderheit ist jetzt eine zentrale Wählerbasis für Labour.

Antisemitismus-Kontroverse rund um Ruhtriennale

Dazu passt ein kurzer Artikel der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, der von einem Skandal auf der nächste Woche beginnenden Ruhrtriennale handelt. Eingeladen war die schottische Band "Young Fathers", von der die Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp nicht gewusst haben will, dass sie die israelfeindliche BDS-Bewegung unterstützt.
Die Band Young Fathers bei einem Live-Konzert auf dem Melt!-Festival 2015 in Gräfenhainchen
Die Band "Young Fathers" hat die Wiedereinladung zur Ruhrtriennale abgelehnt.© picture alliance / Geisler-Fotopress
Als ihr das bekannt wurde, hat sie die Band wieder ausgeladen, was wiederum für Ärger sorgte, worauf sie die Band erneut einlud. Nun sagte die Band ihrerseits ab, und die SÜDDEUTSCHE kommentiert feinsinnig:
"Antisemitismus ist bei einem Kulturfestival nicht zu tolerieren. Nur: Geht es hier tatsächlich um Antisemitismus?" Wem die Frage noch offen erscheint, dem hilft der SZ-Autor fünf Zeilen weiter auf die Sprünge, indem er grantelt, "dass einige jüdische Vertreter bereits auf den bloßen Verdacht hin gegen Künstler und Festivalleitung zu Felde ziehen."
Die Formulierung mit dem bloßen Verdacht muss man erst mal sacken lassen.
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