Fußball als lustvoller Anlass für zügelloses Pathos
Auch Wort- und Schriftmenschen lieben Fußball, dürfen sie doch hier kindlich, unseriös und pathetisch sein. Und wenn dann auch noch EM ist und die Isländer siegen und singen, gibt es genügend Stoff für philosophische Betrachtungen in den Feuilletons.
Kaum nötig zu sagen: Fußball ist unter Wort- und Schriftmenschen so beliebt, weil das Gekicke stets neue, lustvolle Anlässe für zügelloses Pathos, kindliche Exaltation und unseriöse Überhöhungen bietet, Äußerungsformen, die ansonsten weniger opportun sind.
Dass allerdings die Tageszeitung DIE WELT die verblüffenden Erfolge der Isländer bei der Europameisterschaft in Frankreich als "Sommernachtssaga" feiert, muss man als kühles Understatement bezeichnen.
Wie jeder bestätigen wird, der die ausgerasteten Original-Töne des isländischen Fernseh-Kommentators nach dem Siegtor gegen Österreich und nun gegen England gehört hat.
Krasse, metaphysisch heulende Akustik
Wir legen uns fest: Kein Schmerz, keine Droge, kein Lottogewinn erzeugt eine derart krasse, metaphysisch heulende Akustik. Aber das nur nebenbei.
In der WELT bemerkt der Schriftsteller Hallgrímur Helgason zu jenen Stadion-Gesängen, die 10.000 Isländer mit ihrer Mannschaft nach dem Österreich-Spiel anstimmten:
"Vielleicht war das unser stärkster Augenblick nationaler Einheit überhaupt."
Nett beschreibt Helgason auch, was nach dem Sieg gegen England in den isländischen Wohnzimmern los war, in denen sonst Premier League-Fußball mitsamt den englischen Superstars läuft:
"Es war, als hätten wir unsere Haustiere zum Weinen gebracht."
Ohne auf die Europameisterschaft und die deprimierende Leistung des englischen Torhüters einzugehen, philosophiert der Schriftsteller Albert Ostermaier in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG "Über die Einsamkeit, die Ohnmacht und die Allmacht auf der Torlinie".
Der Torwart im mentalen Ausnahmezustand
"Die Psychologie des Torwarts ist der ewige mentale Ausnahmezustand. Er muss seine Reflexe wider alle Natur abrufen, er muss zwischen Beine und Tritte springen, immer dort sein, wo es weh tut. Er soll der personifizierte Schrecken sein, medusenlockig, soll mit dampfenden Nüstern und Minotaurusmiene den Gegner auf seine Hornhände nehmen, aber zugleich, wenn keine Gefahr droht, die Ruhe selbst sein, wie es der Maier Sepp auf den treffendsten Punkt gebracht hat: 'Ein Torhüter muss Ruhe ausstrahlen. Er muss aber aufpassen, dass er dabei nicht einschläft'."
So Sepp Maier in einem NZZ-Artikel von Albert Ostermaier.
Da gerade vom englischen Exit bei der EM die Rede war, können wir die Überleitung zum britischen Brexit kurz halten, weisen aber darauf hin, dass wir ein drittes Mal einen Schriftsteller zu Wort kommen lassen.
Unter der Überschrift "Was soll das selbstgerechte Brexit-Bashing?" wettert der in Manchester geborene, seit langem in Italien lebende Tim Parks, der persönlich übrigens für den Verbleib in der EU war:
"Während der letzten 20 oder 30 Jahre ist die EU zum Synonym für 'Europäische Kultur' geworden, der höchste Ausdruck unserer Zivilisation. Es hat sich die Vorstellung ausgebreitet, dass es für Europa keine wohltätige Zukunft außerhalb dieser 'Gemeinschaft‘ geben kann, wobei schon das Wort Gemeinschaft absolut positiv klingt. So kommt es, dass jeder, der außerhalb dieser Gemeinschaft sein will, als unzivilisiert, ignorant, als selbstbezogener, egoistischer Spielverderber erscheint, der nur das Opfer eines sinistren Populismus sein kann."
Wahn, Rückwärtsgewandtheit, Dummheit
Weil uns Tim Parks aus dem Herzen spricht, hier noch ein paar Sätze:
"Die Überzeugung, allein in der EU läge Europas Zukunft, schließt jede Debatte aus. Das Einzige, worüber man reden kann, ist dann der Wahn, die Rückwärtsgewandtheit, Dummheit, womöglich gar Bösartigkeit all jener, die diese herrschende, nahezu religiöse Überzeugung nicht teilen, all jener, die die Unverschämtheit haben, einen Weg 'gegen die Geschichte‘ zu gehen."
Um bis zum Schluss bei den Schriftstellern zu bleiben:
Marcel Beyer erhält den Büchner-Preis – und stellvertretend für die Anerkennung seitens aller Feuilletons zitieren wir die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG.
"Beyer verfügt über einen allumfassenden Welt- und Formblick. Eine solche Breite des literarischen Schaffens bei jeweils höchster Qualität hatte kein Büchnerpreisträger seit Friedrich Dürrenmatt 1986 mehr vorzuweisen."
Ach ja! Sollte Ihnen die heutige Kulturpresseschau Spaß machen, hier eine traurige Mitteilung:
Wir sind nun, mit einer Überschrift der TAGESZEITUNG, an dem Punkt, "wo der Spaß aufhört."