Gitarrengott vom anderen Stern
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Als "göttliches Kind" huldigt Jochen Wagner in der "Welt" Jimi Hendrix zu dessen 50. Todestages. Dieser sei viel zu früh verstorben und mit ihm auch die Illusion "erlösender Musik". Sein Gitarrenspiel sei ein "Attentat aufs Leben nach Noten" gewesen.
"Der Ikarus des Blues", so überschrieb die Tageszeitung DIE WELT einen Artikel zum 50. Todestag von Jimi Hendrix, in dem Jochen Wagner, Studienleiter an der Evangelischen Akademie Tutzing, rhetorisch in die Vollen ging.
"Und doch ist der Ikarus des Blues bei seinem Hochgeschwindigkeitsleben vorzeitig, kurz vor seinem 28. Geburtstag, abgestürzt. Welcome to Heaven, Club 27. Mit ihm als Ikone erstickte auch die Illusion von erlösender Musik. Er kam von einem anderen Stern zur Welt, zu spielen, wie am 6. September 1970 auf Fehmarn, zu spielen wie niemand zuvor, niemand danach, der Homo ludens, das göttliche Kind, mit seiner schwachen messianischen Kraft, zusammenzufügen the broken pieces of yesterday‘s life in der Ballade ‚The Wind Cries Mary‘: Jimi Hendrix."
Rauschhafte Hendrix-Huldigung
Sie mögen sagen, ein Wochenrückblick soll angesichts von Hunderten Feuilleton-Artikeln nicht an einem kleben bleiben. Doch die rauschhaft-ultimative Hendrix-Huldigung von Jochen Wagner in der WELT ist uns ein weiteres Zitat wert.
"Viele konnten seine Griffe. Aber wie Hendrix sie griff, schlampig, dabei tausendprozentig treffsicher, lasziv und doch klar. So muss es klingen, blubbern, jaulen, fetzen. Etwa wie in Monterey, wo die Popriesen zusahen, Dylan voran. Der Sisyphos der Gitarre spielte like a rollin’ stone alles Absurde auf sechs Saiten an die Wand. Schon der erste Akkord. Ein Anschlag auf alle Partituren, die gehorsam reproduziert werden. Ein Attentat aufs Leben nach Noten. Sein kategorischer Imperativ: Improvisiere! Dann knallt der Pfropfen vom verstopften Leben. Ein akustischer Blitz war dieser H-Sept-Akkord und das Lied sein lang nachhallender Donner. Er rollte nur drei Sommer lang. Aber er rollte alles auf, was bis dahin auf Gitarren zu hören war. Er rollte alles nieder, zuletzt sich selbst." Ungezügelt: der WELT-Autor Jochen Wagner – in memoriam Jimi Hendrix.
Kritische Stimmen zu Rainald Goetz' "Im Reich des Todes"
"Im Reich des Todes" heißt Rainald Goetz' Theaterstück zum Terrortag 9/11, dessen späte Ur-Aufführung am Deutschen Schauspielhaus Hamburg – Regie: Kathrin Beier – viel Beachtung fand, aber nicht überall Beifall. In der TAGESZEITUNG knurrte Eckehard Knörer unter dem Titel "Ein Königsdrama als Hanswurstiade": "Alle reden hier mit den Manierismen des Autors, mit Theoriebegriffen durchsetzt, aller Rede ist von Mündlichkeit weit entfernt, oszilliert zwischen Selbstaussprache und Selbstanalyse. So verschwimmt, wie schon zuletzt im Roman ‚Johann Holtrop‘, der Unterschied zwischen Goetz-Speak und Figurenrede, zwischen Aussage und Deutung. Die Figuren sagen, was Goetz weiß, ohne dass ihnen selbst das Mindeste dämmert."
In der Wochenzeitung DER FREITAG zeigte sich Angela Richter vor allem irritiert: "Bilder der Folterszenen aus Abu Ghraib auf Großleinwand. Der Einbruch des Realen. Unerträglich anzuschauen. Darunter, auf der Bühne: Das Ensemble fläzt in Sesseln herum, trägt Bademäntel und isst dabei Popcorn. Zwei Clowns treten auf und äffen die Zuschauer nach, dann beschmieren sie den gebeugten Gefolterten auf der Leinwand mit Farbe und den Worten: Wo bleibt der Fun? Zur Ironie gesellt sich eine Reflexion auf Zynismus. Mir fällt ein Satz von René Pollesch ein, sinngemäß: Man kann Vergewaltigung nicht kritisieren, indem man Vergewaltigung auf der Bühne spielt. Stimmt das? Irgendwann heißt es im Stück, dass Empathie nicht ausreicht. Aber vielleicht wäre sie ein Anfang?"
Stillen ja, aber wie?
Nicht zynisch, aber schön süffisant äußerte sich in der Wochenzeitung DIE ZEIT Christine Lemke-Matwey zu einem substanziell weichen Thema: "Der Busen als Brust". "Ich finde den Vorgang des Stillens ganz und gar nicht unästhetisch. Und ich mag Kinder, ehrlich. Aber ein wenig könnte sich das ‚ob‘ in der Öffentlichkeit schon nach dem ‚wie‘ richten. Muss es wirklich sein, dass frau ihre Brust am Restauranttisch voll umfänglich entblößt, eine Drückprobe macht, ja, es tropft, nämlich auf die Tischdecke, um dann das halbe Lokal an ihrem Stillstress teilhaben zu lassen? Die oder der zu Säugende brüllte jedenfalls wie am Spieß, und die meisten Anwesenden blickten zu Boden. Gesagt hat niemand etwas. Kinder sind in der heutigen Debatte ein Minenfeld. Wahrscheinlich haben wir in der Tat zu wenige (Kinder, nicht Minenfelder)."
Kulturkritik der härteren Sorte gabs von Botho Strauß. Die Tageszeitung DIE WELT veröffentlichte einen Auszug aus dessen neuem Buch "Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern" – eine Sammlung von Essays aus vier Jahrzehnten. "Wir haben es mit der in der Geschichte der Bundesrepublik bisher einmaligen Situation zu tun, dass den ‚Herrschenden‘ von links keine Kritik, sondern nur Mitläuferschaft geboten wird [so Strauß]. Es handelt sich um die breiteste Majorität, die bei uns je das Sagen hatte (wenn wir von der Mentalität breiter Volksmassen einmal absehen), eine beinah grenzenlose linke Mitte, die schärfer als früher jeden ausgrenzen möchte, der nicht einstimmt. […] Keiner sagt etwas, das nicht ebenso alle sagen könnten. Schaden nimmt dabei die Begabung, dagegen zu sein. Kaum nennenswerten intellektuellen Widerstand erregt die immer herrschsüchtiger werdende politisch-moralische Korrektheit."
Reflexionen zu Botho Strauß' neuem Buch
Sie hören es: Botho Strauß zeigte sich in der WELT in jener anschwellenden Bocksgesangsstimmung, die ihn seit Langem charakterisiert. In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG rezensierte Lothar Müller die gesamte Essay-Sammlung "des stolzen Reaktionärs Botho Strauß" und nahm Anstoß an dessen Abneigung gegen alles Liberale.
"Bei Botho Strauß ist der ‚liberale Kritiker‘ mit dem nihilistischen Versucher identisch, die ‚Liberalität‘ gehört samt Toleranz und Emanzipation zur Sphäre des politisch Korrekten, der seine tiefe Verachtung gilt, und wenn es um Menschenrechte geht, dann allein um den ‚Kitsch der Minderheiten und der Menschenrechte‘. Einen Liberalen, den er als substanziellen Widerpart ernst nehmen könnte, kennt Botho Strauß nicht. In der Gegenwart schon gar nicht, und in der Vergangenheit scheint keine Hannah Arendt und kein Helmuth Plessner seinen Weg folgenreich gekreuzt zu haben." So der SZ-Autor Lothar Müller.
Dessen Kollege Thomas Hürlimann von der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG wiederum schwärmte: "‚Die Expedition zu den Wächtern und Sprengmeistern‘ ist ein Leseabenteuer. Mit dem Dichter und Denker Botho Strauss lehnt man sich hinüber aus dem Eben-noch einer scharf beobachteten Gegenwart in ein Noch-nicht, das uns aus Urzeiten urgewaltig entgegenstürzt. Der Band ist ein Präludium der ewigen Melodie, nachhallender Abgesang und anschwellender Bocksgesang."
Die Feuilletons waren also voll von großen Worten und erhabenen Formulierungen. Aber lassen Sie sich nicht blenden. Bitte bleiben Sie insbesondere im Kopf, mit einer TAZ-Überschrift: "Schnell, unerschrocken und ein bisschen frech."