"Jede neue App macht ein bisschen unfreier"
Die Feuilletons lobten Jaron Lanier, den amerikanischen Informatiker, der den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hat. Die "FAZ" unterstrich, dass Lanier für freie Sicht auf die Sozialstrukturen hochentwickelter Gesellschaften sorgt - der Kulturpresseschau-Wochenrückblick.
Es war die Woche, an deren Ende die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG erstmals ausdrücklich als "Zeitung am Wochenende" erschienen ist ...
Und zwar in einer umgemodelten, frisch designten Samstag-/Sonntag-Ausgabe, in der sich laut Chefredakteur Kurt Kister "das beste zweier Welten" verbinden soll.
Kister hätte auch schreiben können "dreier Welten", denn tatsächlich ist die neue Wochenend-SZ ein frohgemuter Mischling aus Tages-, Wochen- und Sonntagszeitung.
Was das Feuilleton angeht, hat uns die erste erste Seite des neuen Formats ins Grübeln gebracht.
In seinem Kommentar in der linken Spalte reflektierte Andrian Kreye aus Anlass der jüngsten Ted Conference in Rio de Janeiro luftig-abstrakt über "eine Unwucht im Zeitgeist der Kontinente".
Kreye forderte die Intellektuellen aller Hemisphären auf, "nicht nur einen globalen Zeitgeist zu finden, sondern auch den Solidaritätsgedanken neu zu definieren" ...
Was eine echte Sonntagsreden-Phrase war: so bedeutungsschwanger an der Oberfläche wie von innen hohl.
Sonja Zekris Bericht über den Pianisten Aiham Ahmed, der in einem syrischen Lager für palästinensische Flüchtlinge vorspielt, hätte dem politischen Teil besser gestanden.
Denn Zekri schrieb im durchaus bunten, durchaus souveränen 'Korrespondenten-berichten'-Ton - der indessen in einem Feuilleton-Aufmacher mau wirkt.
So kam es, dass die größte intellektuelle Anziehungskraft der Seite von einer übergroßen Anzeige des Verlags Klett-Cotta ausging. Sie warb für "Wiedersehen mit den Siebzigern", das neue Buch von Ulrich Raulff, dem ehemaligen SZ-Redakteur, der seit langem Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach ist ...
Und allemal für größere geistige Spannkraft bürgt, als von der Feuilleton-Erstausgabe der Reform-SZ ausging.
Immerhin, auf der sechsten der acht Seiten des Feuilleton-Buchs herrschte existenzieller Ernst. Dort gab es ausschließlich Todesannoncen zu lesen.
Ende der Blattkritik. Nun weiter wie eh und je.
"Es ist cool, deutsch zu sein", titelte die SZ noch vor der Umgestaltung im Blick auf die Ausstellung "Germany - Memories of a Nation" im Britischen Museum in London ...
Wobei ja die Nachricht, dass es auf der Insel vermehrt Leute gibt, die Deutschland irgendwie prima finden, auch schon seit Jahren umläuft.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG unterhielt sich mit Neil MacGregor, dem Direktor des Museums, über das renovierte Deutschland-Bild, in dem die 'Krauts', 'Fritzen' und 'Panzer' nicht mehr dominieren.
"'Einer der großen Unterschiede zwischen Britannien und Deutschland [so MacGregor] liegt im Umgang mit der Geschichte. Die Briten benutzen die Geschichte generell, wie sie ihre Denkmäler benutzen: um zurückzublicken. [ ... ] Aber der Sinn der Geschichte ist, das Geschehen zu verstehen. An Deutschland bewundere ich, dass Geschichte eingesetzt wird, um darüber nachzudenken, wie man sich jetzt und in Zukunft verhalten soll. Es ist bezeichnend, dass es kein englisches Wort für 'Mahnmal' gibt.'"
Wie man es als Deutscher und überhaupt mit Israel und den Juden halten soll - darüber dachte die Philosophin Susan Neiman in der Wochenzeitung DIE ZEIT nach.
Neiman antwortete auf den Schriftsteller Maxim Biller, der in der Vorwoche behauptet hatte, nur in Israel seien Juden wirklich sicher.
"Hört auf, Antisemiten zu zählen!" hob Neimann an und erklärte:
"Kein Israeli würde einen Aufsatz mit so zahlreichen philo- beziehungsweise antisemtischen Stereotypen versehen, wie es [Maxim] Biller tut. Die armen und dummen Menschen, die in Israel wie in jedem Land der Welt haufenweise anzutreffen sind, widerlegen die alten Klischees von der Überlegenheit des jüdischen Umgangs mit Geld und Geist. Insofern hat Israel wenigstens einen zionistischen Traum erfüllt, nämlich ein Land aufzubauen, in dem Juden Menschen wie alle anderen sind, samt eigener Polizei und Prostituierten."
Zur Verdeutlichung ihrer Intention fügte Susan Neiman hinzu:
"Gegen die Fantasie, die Juden seien besser im Bett, erzählen Israelis höchst selbst ihre Witze: Warum ist israelischer Geschlechtsverkehr so kurzweilig? Weil der eigentliche Höhepunkt der Moment ist, in dem der Mann seinen Kumpels davon erzählt."
Um lustig zu bleiben, aber das Thema zu wechseln:
In selbiger ZEIT fragte Christoph Dallach den U2-Sänger und Afrika-Aktivisten Bono, ob das Gespräch mit einem Bono-Witz beginnen dürfe - was dieser bejahte und zu hören bekam:
"Sagt Bono zum Konzertpublikum: 'Jedes Mal, wenn ich in die Hände klatsche, stirb in Afrika ein Kind.' Da ruft einer aus der Menge: 'Dann hör doch endlich auf zu klatschen.'"
Im seriösen Gesprächsteil verteidigte Bono die von Herbert Grönemeyer, Ozzy Osbourne und anderen kritisierte Aktion, zur Markteinführung des iPhone6 einer halben Milliarde iTunes-Kunden das aktuelle U2-Album "Songs of Innoncence" kostenlos zu überlassen.
"Wir haben [ ... ] gar nichts verschenkt. Wir als Band wurden erstklassig bezahlt. Und Apple hat dann unsere Musik den Kunden geschenkt, also die Menschen belohnt, die sonst Songs über iTunes kaufen und überhaupt noch Geld für Musik ausgeben."
Derweil lobten die Feuilletons Jaron Lanier, den amerikanischen Informatiker, Künstler und Autor, der den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhalten hat.
"Jede neue App macht ein bisschen unfreier", spitzte der Berliner TAGESSPIEGEL Laniers Botschaft zu.
FAZ-Autor Nils Minkmaar unterstrich, dass Lanier für freie Sicht auf die Sozialstrukturen hochentwickelter Gesellschaften sorgt:
"Eine schmale Schicht von sehr reichen, digital sehr mächtigen Personen ist derzeit in der Lage, ganzen Staaten und ihren Gesellschaften ihre Logik aufzunötigen. Denn das ist es, Lanier erinnert uns daran, was digitale Großprojekt mit uns anstellen: Sie übertragen die ihren Geschäftsmodellen innewohnende Formel auf ein ganzes Land und unterstellen dieses Denken jedem Nutzer." -
Bleibt uns, den treffendsten Titel der Woche zu küren. Er stand in der ZEIT und lautete: "Ebola ist wie wir: Mobil" ...
In trotzigem Kontrast dazu wünschen wir Ihnen, liebe Hörer, was in der NEUE ZÜRCHER ZEITUNG Überschrift wurde - nämlich: "Die pure Lebenslust."