Aus den Feuilletons

Jonathan Franzen verschlägt es in die DDR

Jonathan Franzen
Der US-Autor Jonathan Franzen © Imago
Von Ulrike Timm |
Alle werden irgendwie überwacht: In seinem neuen Roman "Purity" bringt Jonathan Franzen die DDR und das Internet zusammen. Und Dresden leidet wegen Pegida an einem Besucherrückgang. Das und mehr in unserer Kulturpresseschau.
Die Kunst tropft, und die Künstlerin ist begeistert. 20 Tonnen Eis hat Nova Dobel mitten in Jerusalem auffahren lassen, eine Eismauer errichtet, 2,20 Meter hoch, 5 Meter breit. Die schmilzt natürlich in der Sommerhitze. Vorher aber sind jede Menge Wünsche und Gebete hineingeritzt worden, ganz so, wie nebenan die Gläubigen ihre Zettelchen schrieben, die sie in die Ritzen der Klagemauer stecken.
"Du kannst hier sehen, dass Mauern verschwinden, aber das Wasser wird in den Boden einsickern, zusammen mit unseren Gebeten" erzählt die Künstlerin der SZ. Sie macht das, um in der "Stadt der festgefrorenen Konflikte eine Debatte anzustoßen über all die in Stein gemeißelten Wahrheiten". "So grätschen die Macher des Jerusalemer Kultursommers mitten hinein in den Nahost-Konflikt" - etwas Besonderes, weil für Kreativität, Leichtigkeit und Moderne in Israel doch eigentlich Tel Aviv steht, die Mittelmeermetropole ist der Anziehungspunkt für Künstler. "Mit gepflegter Arroganz von Tel Aviv aus betrachtet, ist die Frage nach einem Kulturleben in Jerusalem für viele so relevant wie die, ob es Leben auf dem Mars gibt", heißt es in der Süddeutschen, aber jetzt schenkt eben der Jerusalemer Kultursommer der Stadt mit den festgefrorenen Konflikten ein schmelzendes Kunstwerk: die Eismauer vor der Klagemauer.
"Fremdenfeinde sind in Dresden eine (nicht verschwindende) Minderheit"
Schönes Bild. Einfach an sich abtropfen lassen kann man in Dresden nicht, was hässliche Bilder und Töne von Pegida und Fremdenfeindlichkeit bewirkt haben. Ein Besucherrückgang ist zu verzeichnen, trotz Semperoper und Frauenkirche und einem Boom der Städtereisen.
"Kulturtouristen , die eine Stadt nicht nur in abgeschotteten Kongress- und Geschäftsreisehotels besuchen, sondern die Atmosphäre und Lebenskultur eines Ortes erfahren wollen, reagieren auf Meldungen über politische, soziale und darum auch kulturelle Spannungen besonders empfindlich", notiert Peter von Becker im TAGESSPIEGEL.
"Fremdenfeinde sind in Dresden eine (nicht verschwindende) Minderheit", heißt es mit schön doppeldeutig gesetzten Klammern. "Auch Dresdens Zivilgesellschaft, die genau wisse, dass ihre Stadtkultur, angefangen von den italienischen Handwerkern und Barockkünstlern bis zur Tatsache ‚kein Meißen ohne China‘ auf Weltoffenheit beruhe, habe sich erst allmählich gegen die Hetzer positioniert: ‚Köln oder München waren da schneller‘", meint Hartwig Fischer, Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen, gegenüber dem Tagesspiegel. Immerhin heißt der Artikel hoffnungsvoll: "Dresden wacht auf". Wird ja auch Zeit.
Keiner in "Unschuldig" ist unschuldig
"Das Internet ist die DDR von heute", so versucht die FAZ den neuen Roman von Jonathan Franzen in eine Überschrift zu bannen. Nächste Woche erscheint er in den USA und auch in Deutschland. "Unschuldig"– so der etwas unscharfe deutsche Titel, die amerikanische Ausgabe heißt "Purity", was ja eigentlich Reinheit bedeutet – "Unschuldig"spielt u.a. in der DDR der 80er-Jahre. Jonathan Franzen bringt sie in literarischer Engführung so waghalsig wie die FAZ überzeugend mit dem Internet zusammen – "keiner in Unschuldig ist unschuldig", alle werden irgendwie überwacht.
Im großen FAZ-Interview lässt Jonathan Franzen uns auch in die Werkstatt, in den Kochtopf seines Schreibens blicken. "Er verschwand aus dem Buch, ich konnte ihn irgendwie nicht gebrauchen", heißt es über einen Charakter, der lange in ihm rumorte und eigentlich eine Hauptrolle übernehmen sollte. Manche Figuren müssen eben weiterwandern, zum nächsten oder übernächsten Roman. Wer glaubt, dass ein Schriftsteller seine Figuren wie die Billardkugeln durch seine Geschichten kickt, erfährt von Jonathan Franzen: Eher kicken sie ihn.
Da hilft ein Blick in die TAZ, die eine komplette Seite der Frage: "Schriftsteller werden – warum tut man sich das an?" widmet. Nachdem ausgiebig vom Müssen, vom Wollen und der ständigen Ebbe in der Kasse die Rede ist, heißt es lapidar: "Es ist halt alles ein großes Identitätsherumgeeiere."