Aus den Feuilletons

Lieder für Italiens Seele

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Zwei Frauen stehen singend und lachend auf einem Balkon in Mailand. Eine schwenkt die italienische Nationalflagge.
Die italienische Bevölkerung trotzt ihren Ängsten und Sorgen in Zeiten von Corona mit Liedern vom Balkon. © imago / Carlo Cozzoli
Von Burkhard Müller-Ullrich |
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Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" berichtet, wie die italienische Bevölkerung sich mit Liedern moralisch aufrichtet. Die "Süddeutsche Zeitung" sieht sich angesichts der Quarantänemaßnahmen wegen Corona an die Zeit des Biedermeiers erinnert.
"Jeden Abend wird in Neapel, Rom, Mailand, Bologna, Florenz und vielen anderen Orten gesungen und Musik gemacht, die Einladungen dazu zirkulieren in den sozialen Netzwerken", berichtet Karen Krüger in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
"Die Menschen singen Lieder, in denen sich die italienische Seele wiederfindet; sie intonieren Stücke von Verdi, sie singen ihre Nationalhymne 'Fratelli d‘Italia' und das Partisanenlied 'Bella Ciao', oder Schlagerhits wie 'Ma il cielo è sempre più blu' von Rino Gaetone. In Neapel hört man auch die Fußballhymne 'Un giorno all'improvviso' auf den Balkonen. Dort verstummt der Chor oftmals erst mit dem letzten Tageslicht."

Kulturelle Bewältigung der erzwungenen Stubenhockerei

Und dann erwähnt die FAZ-Autorin "auch noch die Regenbögen, die jetzt in vielen Fenstern erscheinen. Oft sind sie von Kinderhand gemalt und überschrieben mit den Worten 'Andrà tutto bene' – 'Alles wird gut.'"
Wir werden in den nächsten Tagen und Wochen sicherlich noch viel über den Wert von Symbolen und Ikonen zu sehen, zu hören und zu lesen bekommen, über die tröstende und gemeinschaftsstiftende Funktion künstlerischer Äußerungen und Betätigungen sowie alle möglichen kulturellen Bewältigungsformen der erzwungenen Stubenhockerei. Der quarantänemäßige Rückzug ins Innerliche erinnert Gerhard Matzig von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG an die Zeit des Biedermeier:
"Damals, im frühen 19. Jahrhundert nach dem Ende der napoleonischen Kriegswirren und angesichts einer ersten Ahnung global beunruhigender Fliehkräfte, entwickelte sich die Tugend des Privatisierens. Hausmusik, Literatur, Kulinarik, Spiel und die genau in dieser Zeit erblühende Wohnkultur formulierten lange vor dem 'Cocooning' erste Antworten auf eine zunehmend als desorientiert empfundene Welt."

Viele Menschen leben freiwillig die meiste Zeit "indoor"

Nun ist ein freiwilliger Rückzug mit einer angeordneten Abschottung nicht ganz vergleichbar, aber tatsächlich leben wir heute auch ohne Corona-Quarantäne im Wesentlichen als Stubenhocker. Matzig verweist auf eine Studie des dänischen Bauprodukte-Herstellers Velux. Ergebnis:
"Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die im Vergleich zu früheren Generationen den weitaus größten Teil ihrer Zeit in geschlossenen Räumen verbringen - aktuell 90 Prozent ihres Lebens. Britische Meinungsforscher meinten zudem, dass sich eine große Mehrheit von 77 Prozent ihrer realen 'Indoor-Existenz' gar nicht wirklich bewusst sei."
Auf der anderen Seite boomt die Outdoor-Kultur und verschärft die psychischen Probleme des forcierten Zuhausebleibens. Nach den Lebensmittelläden werden die Baumärkte und Geschäfte für Bastelbedarf leergekauft werden, sagt Matzig voraus. Bespaßung und Beschäftigung werden auf engem Wohnungsraum besonders wichtig.
Es ist, so der SZ-Redakteur, "die Stunde des Blaise Pascal. Der Philosoph meinte schon vor Jahrhunderten: 'Alles Unglück der Menschen kommt davon her, dass sie nicht verstehen, sich ruhig in einer Stube zu halten.'"

Ein journalistischer und unternehmerischer Wirbelwind

Einer, der sich nie ruhig in einer Stube halten konnte, wird ganzseitig in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG interviewt. In der Schweiz kennt ihn wirklich jeder, bei uns ist Roger Schawinski höchstens als der Mann bekannt, der Harald Schmidt bei Sat.1 hinauswarf. Doch sein eigenes Gastspiel als Chef bei dem deutschen Sender war nur von kurzer Dauer. Zuvor hatte er in der Schweiz ein Piraten-Radio gegründet, das erst durch eine Gesetzesänderung legal und zum ersten Privatrundfunk des Landes wurde.
Er schuf die erste Verbrauchersendung im Schweizer Fernsehen, er war Chefredakteur einer Tageszeitung, er schrieb ein Dutzend Bücher und bekam eine eigene, nach ihm benannte wöchentliche Talkshow im Schweizer Fernsehen, die jetzt gegen seinen Willen zu seinem 75. Geburtstag eingestellt wird. Dieser journalistische und unternehmerische Wirbelwind erklärt in der NZZ seinen Erfolg so:
"Wenn alle in eine Richtung schauen, muß man sich umdrehen und in die andere blicken. Dann sieht man manches als Einziger und wird ein Pionier statt ein Follower."
Beim Schweizer Establishment ist der zwar charmante, aber auch theatralisch aggressiv auftretende Schawinski trotz all seiner Erfolge nicht überall gelitten: Der Zürcher Golfclub Dolder verweigerte ihm die Aufnahme.
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