Lob der Identitätspolitik
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Die Debatte um die Identitätspolitik wogt noch immer durch die Feuilletons. Die "WELT" sieht eifernden Zorn und warnt vor dem Kampf aller gegen alle. Schauspieler Ulrich Matthes hingegen betont in der "SZ" die positiven Seiten.
Haben Sie Lust, sich ein weiteres Mal mit dem Streit über linke Identitätspolitik zu befassen? Bitte bejahen Sie rasch! Denn schon legen wir los. Und zitieren Jacques Schuster, der auf der Forum-Seite der Tageszeitung DIE WELT wettert:
"Unter dem Einfluss queerer Gruppen und dem Druck jüngerer Funktionäre, die glauben, es sei im Sinne einer neuen Emanzipation geboten, von (den) Idealen (der französischen Revolution) zu lassen, folgt die Führung der SPD einer Identitätspolitik, die mehr und mehr die Form einer säkularisierten Religion annimmt. Deren Jünger schüren in Selbstberauschung und eiferndem Zorn die Feindseligkeit aller gegen alle. Überdies sind sie das, was sie zu bekämpfen vorgeben: Sie sind durch und durch rassistisch. Lange schon haben sie sich von dem Ideal des mündigen, aufgeklärten, selbstbestimmten Staatsbürgers gelöst, dafür stellen sie die religiöse, sexuelle und ethnische Zugehörigkeit über alles." Auf Attacke gebürstet: der WELT-Autor Jacques Schuster.
Offensive Selbstdefinition als Opfer
Anders die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, die ihrem Doppelinterview mit dem Schauspieler Ulrich Matthes und der Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan den Titel "Zur Verständigung" gibt.
Ulrich Matthes erteilt der Identitätspolitik erst einmal ein Lob. "Ich hatte kaum je mit meiner Homosexualität ein Problem. Allein die Tatsache, dass meine Eltern damit freundlich und liebevoll umgegangen sind, ist ein enormes Privileg andern gegenüber, die verdammt und verdonnert werden. Aber immer wieder mal darüber nachzudenken, wie privilegiert man ist, da muss ich sagen, das haben die letzten zehn Jahre von Identitätspolitik bei mir allemal geschafft." Gesine Schwan ist völlig einverstanden.
Sie gibt allerdings – von Ulrich Matthes absehend – zu bedenken: "Ich finde den Versuch schwierig, auf das eigene Anliegen aufmerksam zu machen, wenn das verbunden wird mit einer sehr offensiven Selbstdefinition als Opfer, man traut sich dann kaum noch etwas zu antworten. Das suggeriert, dass Widerspruch unsensibel ist für Leid. Und schwierig ist es auch, wenn sich eine Seite eigentlich gar nicht verständigen, sondern die Bühne erobern will. Dann kann die andere Seite versuchen, was sie will: Es kommt nicht zur Verständigung."
Schwan verzichtet auf die Benennung der Akteure, die aus ihrer Sicht per Identitätspolitik vor allem Bühnen erobern wollen. Erklärt jedoch die Bedeutung von Gefühlen im politischen Diskurs.
"Ich glaube, dass wir aus Gefühlen nicht einfach Argumente machen können. Ich kann ja auch Gefühle von Rassisten in ihrer Existenz nicht bestreiten. Nur weil jemand sagt, 'Ich bin jetzt aber wütend' – und diese Wut kommt auch von rechts –, kann ich nicht akzeptieren, dass die einen Bus von Flüchtlingen attackieren. Ich kann auch nicht einfach sagen, dieses Gefühl ist berechtigt, und jenes Gefühl ist nicht berechtigt. Gefühle kann man nicht unter dem Aspekt der Berechtigung betrachten. Ich kann aber ihre Äußerung unter dem Aspekt des friedlichen Zusammenlebens betrachten." Weise Worte von Gesine Schwan in der SZ.
Linke Verbrüderung mit Islamisten?
"Führt ein falsch verstandener Antirassismus bei populistischen Linken zur Verbrüderung mit Islamisten? Es gibt Anzeichen dafür", heißt es in der TAGESZEITUNG. Die Autorin Caroline Fourest beklagt, in Frankreich würden in den Sozialwissenschaften säkulare Standpunkte inklusive etwa der Kritik an Verschleierung kaum noch akzeptiert.
"Ein solches Sektierertum passt zu einer Generation, die dazu neigt, sich von allem beleidigt zu fühlen. Das geht mittlerweile so weit, dass der Streit um Ideen mit einem Zusammenstoß von Identitäten, das Recht auf Gotteslästerung mit Rassismus und beinahe jede Abweichung mit einer 'Mikroverletzung' verwechselt wird. Während die Aufstachelung zum Hass im Internet kaum jemals so enthemmt war wie heute, wird es immer schwieriger, zu debattieren, ohne zur Ordnung gerufen, bedroht, beschimpft oder 'annulliert' zu werden."
Übrigens: Im Berliner TAGESSPIEGEL antwortet Wolfgang Thierse kurz und spöttisch einem Kritiker, der ihm den Gebrauch des Begriffs "Normalität" verübelt hat. Soweit unsere monothematische Presseschau. Leider wissen wir nicht, ob wir Ihre Erwartungen erfüllen konnten.
Aber nicht umsonst titelt die TAZ: "Was bleibt, sind die Fragen an einen selbst."