Aus den Feuilletons

"Lyrik ist die älteste Programmiersprache der Welt"

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Ehrliche Songs für harte Kerle: Der vor kurzem gestorbene Gunter Gabriel - hier zu Gast beim Deutschlandfunk Kultur. © Deutschlandradio - Matthias Dreier
Von Paul Stänner |
Während die "TAZ" den Feministen in Gunter Gabriel entdeckt, erfährt die "WELT" im Garten unter der Lavendelstaude, dass es bei Lyrik schlicht um alles geht. Die "FAZ" klärt unterdessen die Halbwertszeiten von Autos und die "SZ" schlürft Milchschaum in New York.
Einer, von denen ich dachte, er sei unverwüstlich, ist verstorben: Gunter Gabriel. Die TAZ, das Hausblatt des harten Mannes, hat ihm einen langen Nachruf gewidmet, eine Eloge auf eine raue Stimme. Dass Gunter Gabriel mit der Zeile "Hey Boss, ich brauch mehr Geld" ein Werk von zeitloser Gültigkeit gelungen ist, muss jeder kritiklos anerkennen. Dass der Song "wenn du denkst, du denkst, dann denkst du nur du denkst" eine "feministische Perle" sei, würde außer dem Autor Heinrich Dubel wohl kaum jemand denken.

"Freiheit", schreibt Dubel, sei Gabriels großes Thema gewesen und:
"Ehrliche Musik", eine Musik – das weiß die TAZ – für "Trucker, Taxifahrer, 'Bullen', Rocker, Männer mit Hämmern, Männer, die Bier trinken, hart arbeiten, im Knast sitzen, auf der Straße oder im Keller, Männer, die einsam sind oder arbeitslos oder beides."

Bei der Lyrik geht es um alles

Wir bleiben bei der Lyrik, aber es bleibt nicht mehr so einfach. In der WELT geht es Andreas Rosenfelder nicht um Männer mit Hämmern, sondern die subtilen Fragen der Wortwahl, die den Büchner-Preisträger Jan Wagner umtreiben. Rosenfelder zitiert ein Wagner-Gedicht, nämlich:
"ist es ein fuchs, ein schimmel oder rappe,
hengst oder stute,
was durch den garten trabt und am rhabarber
zugange ist, an der lavendelstaude?"
Jetzt denkt man gerade, das ist doch ein relativ schlichter Satz über einen Vorfall im Garten - ähnlich wie der über Männer, die Bier trinken. Weit gefehlt, belehrt uns Rosenfelder, denn es gehe – Zitat -
"bei der Lyrik um etwas völlig anderes, nämlich: um alles. Wer in ihr einen feingeistigen Hobbygarten sieht, der hat nicht nur nie richtig welche gelesen – er hat höchstwahrscheinlich auch nie wirklich gelebt, was in einem gewissen Sinn ein und dasselbe ist."
Nach dieser stilistisch wackligen, aber meinungswuchtigen Klarstellung wagt natürlich niemand mehr zu sagen, er verstehe nicht das Unaussprechliche hinter der Frage, ob der Rappe am Rhabarber zugange war. Schon schlägt Rosenfelder erneut zu:
"Lyrik ist die älteste Programmiersprache der Welt", schreibt er, "und zugleich die beste Verschlüsselungstechnik, die wir haben."
Ich für mich habe entschlüsselt, nicht der Schimmel, sondern der Rappe war am Rhabarber. Das ergibt sich klar aus der Alliteration.

Die Halbwertszeit von Architektur

Kaum ein Artikel über Architektur kann es sich verkneifen, dem Berliner Flugplatz BER eins mitzugeben. Niklas Maak fragt in der FAZ, ob die Berliner, wenn ihr Flugplatz doch fertig werden sollte, weil er nicht vorher in ein Spaßbad umgewandelt wurde, der Meinung seien würden, sie hätten etwas Identitätstiftendes oder Aufwertendes geschaffen.
Ich als Berliner könnte ihm antworten, ein einfacher Flughafen würde uns reichen, aber Niklas Maak hat wichtige Maßstäbe genannt: Identitätstiftend oder Aufwertend – darum geht es bei der Architektur.
Heute, schreibt Maak, wo "die Halbwertszeit von Gebäuden oft geringer ist als die von Autos oder Kleidung", seien Architekten mehr denn je gefragt, Antworten auf die Zukunftsfragen des Bauens zu finden." In den kommenden Jahrzehnten ziehen immer mehr Menschen in Ballungsräume. Maak hält ein Plädoyer für Architekten, denn:
"An ihren Ideen wird sich mehr denn je entscheiden, ob und wie das Zusammenleben in den Städten und den Ortschaften der Zukunft funktionieren wird."

"Fiktion wird zur Realität"

Vielleicht so: Die Zuschauer bestellen sich Aufenthaltsräume aus dem Fernsehen. Johanna Bruckner beschreibt in der SÜDDEUTSCHEN einen Trend in den USA, Cafés aus TV-Serien nachzubauen. Als in New York einige Monate lang ein Nachbau des Cafés aus der Serie "Friends" geöffnet hatte, staute sich die Warteschlange auf über einhundert Meter. Ein Café nach der Ur-Alt-Serie "Golden Girls" sei noch immer überlaufen, hier könne man essen, worüber in der Serie gesprochen wurde. "Seriencafés", schreibt Bruckner, "setzen da an, wo der Fanshop aufhört … Fiktion wird zur Realität."
Aber das ist ja bekanntlich auch das Grundprinzip von Architektur.
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