Aus den Feuilletons

"Niemand erhob die Stimme gegen die Barbarei"

Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938.
Passanten vor einer zerstörten Fensterfront eines jüdischen Geschäfts in Berlin nach der Reichspogromnacht 1938. © picture alliance/KEYSTONE
Von Arno Orzessek |
Die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", der "Tagesspiegel", die "Neue Zürcher Zeitung" und die "Welt" beleuchten rund um das für die deutsche Geschichte so bedeutende Datum des 9. Novembers den Zustand der Republik in verschiedenen Facetten.
"Quasselasseln quasseln Quatsch". So hieß in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG die Überschrift, die uns zur Lektüre der Besprechung eines Buches verführte, zu dessen Zielgruppe wir nicht gehören. Es heißt "Ein Nilpferd steckt im Leuchtturm fest. Tiergedichte für Kinder". Zugegeben: die Besprechung war nur 36 Zeilen lang – aber viele davon haben wir gern gelesen.
Etwa folgende: "Da trinken Elefanten Himbeerbrause, bis sie sich rosa färben. Es tanzen Taranteln Bauchtanz, und zwei Schnecken wetzen um die Wette. Mitunter tauchen aber auch höchst originelle Kreaturen auf, die in keiner Historia animalium beschrieben sind: das Prinzregentenpferdchen etwa, ein Wischfisch, das Schmugnu, der wöse Bolf - und natürlich das Kuscheltier, das laut Register zur Familie der Weichtiere gehört". Freute sich die NZZ-Autorin Alice Werner, die auch das Gedicht erwähnte, in dem sich ein Zebra "im Fasching als Fußgängerüberweg verkleidet".

Der Glanz der Berliner Republik

Apropos Kleidung! In der Tageszeitung DIE WELT schrieb Ulf Poschardt, der sich in diesen Dingen viel Ahnung zubilligt, eine "Kritik der modischen Vernunft". Leitende These: "Die Berliner Republik kommt weniger in der politischen Theorie als im Kleiderschrank bei sich selbst an." Drei Fotos zeigten Christian Lindner, Heiko Maas sowie Robert Habeck - und ihnen galt Poschardts Anerkennung.
"Wer sein Land liebt, muss bei sich anfangen können. Sie finden sich gut, weil Selbstliebe darauf hindeutet, keine Unansehnlichkeit mit irgendwelchem Machtmissbrauch kompensieren zu müssen. Obwohl alle drei aus der Provinz kommen, sind sie zum modischen Kosmopolitentum aufgestiegen und geben der Berliner Republik jenen Glanz, den sie braucht und verdient. Weder Lindner noch Habeck oder Maas wirken verkleidet. Erkennbar ist, dass sie so auch sonst rumlaufen." Ulf Du-bist-was-Du-trägst Poschardt in der WELT.

9. November - "Schicksalstag" der Deutschen

So viel zur Unterhaltung. Denn in einer Woche rund um den 9. November, der manchmal "Schicksalstag der Deutschen" genannt wird, weil von der Schlacht bei Gammelsdorf 1313 über die November-Revolution 1918 und die Reichspogromnacht 1938 bis zum Mauerfall an 9ten Novembern oft viel los war in der deutschen Geschichte. Rund um den 9. November also fehlte es den Feuilletons auch dieses Jahr nicht an ernsten Themen.
Unter der Überschrift "Die Gemütsruhe der Unmenschen" besprach Andreas Kilb in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG eine Ausstellung der Berliner Topographie des Terrors mit dem umstrittenen Titel "Reichskristallnacht". Denn unter diesem Namen hatten die Nazis ihre staatlich organisierte Mordbrennerei propagandistisch ausgeschlachtet und zum "Überkochen der Volksseele" umgelogen.
Der FAZ-Autor und Ausstellungsbesucher Andreas Kilb urteilte differenziert: "Zwar betrachtete die Bevölkerung die Ausschreitungen vielfach 'ohne Verständnis, wenn nicht sogar ablehnend', wie ein Brühler SA-Mann notierte, aber niemand erhob die Stimme gegen die Barbarei der braunen Aktivisten."

Knobloch fordert einen parteiübergreifenden Aufschrei

Charlotte Knobloch, ehemals Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat den Pogrom einst als Sechsjährige erlebt. Und bezog im Berliner TAGESSPIEGEL zum heutigen Antisemitismus Stellung: "Keine Frage: Wir haben in Deutschland sehr viele aufrechte Demokraten. Doch gerade auf der politischen Ebene müssen sie sich lautstark zu Wort melden, um Judenfeindlichkeit anzuprangern. Das vermisse ich. Es braucht endlich einen parteiübergreifenden Aufschrei! Einen regelrechten Knall."
Die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG hatte unterdessen nachgezählt und verkündete: "Die Antisemiten in Deutschland sind nicht mehr geworden - aber lauter." Ob das stimmt und ob das auch für die Rechten insgesamt gilt, darf man bezweifeln - sie sind wohl tatsächlich mehr geworden. Deshalb stellt sich diesseits von rechts die Frage: Wie umgehen mit ihnen?
Die Schriftstellerin Margarete Stokowski hat eine Lesung in der renommierten Münchener Buchhandlung Lehmkuhl abgesagt, als sie erfuhr: Dort stehen auch Bücher von Rechten im Regal. War das richtig so - oder nicht? "Ja!" meinte Iris Radisch in der Wochenzeitung DIE ZEIT. "Ob man mit Rechtsextremen streitet oder ob man ihre Produkte vertreibt, ist ein Unterschied. Die Absage ist plausibel."
"Nein!" meinte Radischs Kollege Ijoma Mangold. "Buchhandlungen müssen nicht wie gute Hirten sein, die ihre Schäfchen vor Teufelszeug schützen. Der Leser ist mündig." Marc Reichwein wurde in der WELT noch deutlicher: "Margarete Stokowski will für eine freie, offene, feministische Gesellschaft stehen. Mit ihrer Absage steht sie eher für betreutes Denken. Du sagst mir, was du liest (oder zum Lesen empfiehlst), und ich sage dir, ob du das darfst, wenn du noch mit mir sprechen willst. Foucault nannte das Diskurspolizei." Marc Reichwein in der WELT.

Prekäre Balance von innerer und äußerer künstlerischer Freiheit

Viel Beachtung fand der Film "Leto" - nicht zuletzt, weil der Regisseur Kirill Serebrennikow in Russland wegen angeblicher Veruntreuung unter Hausarrest steht. "Leto" ist eine Filmbiografie des legendären Musikers Wiktor Zoi und der sowjetischen Rock-Szene der 80er Jahre.
In der TAGESZEITUNG zeigte sich Barbara Schweizerhof zufrieden: "Über all die dichte Atmosphäre hinweg ist 'Leto' ein nachdenklicher Film über die prekäre Balance von innerer und äußerer künstlerischer Freiheit. Was soll man tun, welche Lieder soll man singen, wie viel politisches Engagement zeigen? Es sind Fragen, die unmittelbar auf heute verweisen."
Skeptischer, aber am Ende versöhnlich: Sonja Zekri in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: "Es wäre leicht, Serebrennikow Sentimentalität vorzuwerfen oder zumindest Nostalgie. In Wahrheit hat er sich ein Land erschaffen, das es niemals gab, ein Märchenreich, in dem niemand arbeiten muss, Freundschaften mehr zählen als Geld und irgendjemand immer ein kaltes Bier hat. Oder ein warmes. Aber 'Leto' hinterlässt ein heiteres Gefühl, ein angenehmes Prickeln wie nach einem trägen, verspielten und selbstverständlich etwas besoffenen Tag am Strand."
Wir sagen: Das hört sich gut an, wünschen Ihnen einen tollen Sonntag und schließen uns dem Klima- und Umweltschlamassel zum Trotz der optimistischen These an, die in der TAZ Überschrift wurde. Sie lautete: "Es ist Raum für Liebe im Ökosystem."
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