Aus den Feuilletons

Reisevisionen für den deutschen Corona-Sommer

04:13 Minuten
DDR-Bürger werden am 10.11.1989 am Grenzübergang Helmstedt-Marienborn, von Sachsen-Anhalt nach Niedersachsen kommend, von zahlreichen Menschen begrüßt.
Eine innerdeutsche Reisewelle - wie nach der Grenzöffnung 1989 - könnte Ost und West weiter zusammenbringen. Davon träumt Simon Strauß in der "FAZ". © dpa / picture alliance / Bernd von Jutrczenka
Von Hans von Trotha · 18.05.2020
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Wegen Corona könnte es dieses Jahr dazu kommen, dass viele Deutsche in der Heimat Urlaub machen, überlegt die "FAZ". Der Ausbruch eines innerdeutschen Reisefiebers - wie 1989 - würde manche Wunden heilen, meint das Blatt.
War's das? Natürlich nicht. Jetzt schält sich überhaupt erst heraus, was das ist, "Kultur in Zeiten der Seuche", um es mit Jörg Häntzschel zu sagen. Der kolportiert in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG ein offizielles Papier dazu, "wie der Staat die Kultur wieder in Gang bringen will".
"Der Weg vom friedlichen 'Zusammenleben in unserer Demokratie' bis zur Hygiene in Theater-Duschen ist nur vier Seiten weit. Aber so ist das eben mit der Kultur in Zeiten der Seuche. Wie sie aus ihrem derzeitigen Schlaf geholt werden kann, ohne dass alle krank werden", darum geht es in dem Papier, "das die Kulturminister der Länder gemeinsam mit Kulturstaatsministerin Monika Grütters erarbeitet haben".

Kultur als Trostspender

"Das staatliche Verständnis von Kultur hat sich seit dem Beginn der Pandemie in zwei widersprüchliche Richtungen entwickelt", resümiert Häntzschel. "Auf der einen Seite wurde die Kultur zu einer Art säkularer Universalreligion erhoben, die in harten Zeiten wie diesen Trost spendet. Sie ist Therapeutikum gegen Einsamkeit, Waffe gegen Populismus und Humus der Demokratie. Grütters bemüht diese Vorstellung besonders gerne, vielleicht weil sie als Katholikin glaubt, sie könne auch den nicht-religiösen Künstlern damit etwas von der ihr vertrauten Inbrunst mitgeben."
Das Ganze, findet Häntzschel, "klingt ein bisschen nach kultureller Kriegswirtschaft, eine Art Mobilmachung für die staatlich geförderte Kunst. Keine Entschuldigungen! Es muss wieder losgehen!"

Corona-Zensur in Russland

"An die Front" – ohne Ausrufezeichen, aber mit dieser Überschrift, schwenkt die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG auf Russland, wo die Seuche ganz andere religiöse Fantasien provoziert hat: Alissa Ganijewa zitiert in der FAZ den Schriftsteller Sachar Prilepin, der "verkündete, wenn die Pandemie Russland verschone, könne man sagen, dass 'Gott diejenigen Staaten bestraft hat, die die gleichgeschlechtliche Ehe akzeptiert haben'".
Es ist anders gekommen. Derzeit, so Ganijewa, "häufen sich mysteriöse Todesfälle unter Ärzten und Studenten müssen Pfleger ersetzen, aber Putin gibt den guten Herrscher. Putin will vermeiden, dass man ihn für Entscheidungen in der Corona-Krise verantwortlich macht und zeigt sich als gütiger, zugewandter Regent."
Und: Seit April gibt es in Russland "einen neuen Straftatbestand: die 'öffentliche Verbreitung falscher Informationen über Sachverhalte, die eine Gefahr für das Leben und die Sicherheit der Bürger darstellen'. Das Oberste Gericht betonte, dabei gehe es nicht nur um Veröffentlichungen in Massenmedien und sozialen Netzwerken, sondern auch um die mündliche Weitergabe, um Gespräche."
Soviel zur Alltagskultur in Russland dieser Tage.
Während bei uns "Kultur in Zeiten der Seuche" bisweilen bedeutet, dass jeder das, was ihn am meisten beschäftigt, mit der Seuche kombiniert. In dieser Reihe "Die Seuche und … " hat Simon Strauß die deutsche Einheit als Thema gewählt.

Reiseziele im 30. Jahr der Einheit

"In diesem Jahr treffen Seuche und deutsch-deutsches Einheitsgedenken aufeinander", beobachtet er in der FAZ und fragt: "Wohin führt das 'Wir-Gefühl' unserer hygienedisziplinierten Nation?" So überzüchtet diese Frage erscheinen mag - Strauß stellt auch die entscheidende konkrete, nämlich: "Was passiert, wenn vierzig Millionen Deutsche nicht ins Ausland reisen?" Ihn verführt dieser Gedanke zu einer nationaltouristischen Vision:
"Wäre nicht jetzt, wo wir den Blick gezwungenermaßen vornehmlich aufs Nationale richten, der Augenblick günstig für eine einmalig intensive 'Er-fahrung' Deutschlands? Was wäre das für eine Vorstellung: Im dreißigsten Jahr ihrer Wiedervereinigung reisen die Deutschen noch einmal mit schlagenden Herzen durch ihre Bundesländer, schauen auf die Schilder am Autobahnrand, als wäre das nicht nur leidige Durchfahrtsprosa, sondern Verheißung außergewöhnlicher Ziele", ja: "Der Ausbruch eines innerdeutschen Reisefiebers könnte manche Wunden heilen."
"Die Zahl der Verstörten nimmt zu und die der Planlosen auch", stellt Simon Strauß zwischendrin fest. Besteht diese Gefahr nicht auch, wenn 40 Millionen Deutsche "mit schlagenden Herzen" ihre Wunden im "innerdeutschem Reisefieber" zu heilen versuchen?
Womöglich werden wir's sehen. Das RKI ist gewarnt.
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